Herbst 1880 6 [301-461]
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Unser Erkennen und Empfinden ist wie Ein Punkt im Systeme: wie Ein Auge, dessen Sehkraft und Sehfeld langsam wächst und mehr umfaßt. Damit ändert sich nichts in der wirklichen Welt, aber diese beständige Thätigkeit des Auges versetzt alles in eine beständige wachsende herzuströmende Thätigkeit
Wir sehen unsere Gesetze in die Welt hinein und wiederum können wir diese Gesetze nicht anders fassen als die Folge dieser Welt auf uns. Der Ausgangspunkt ist die Täuschung des Spiegels, wir sind lebendige Spiegelbilder.
Was ist also Erkenntniß? Ihre Voraussetzung ist eine irrthümliche Beschränkung, als ob es eine Maaßeinheit der Empfindung gebe; überall wo Spiegel und Tastorgane vorkommen, entsteht eine Sphäre. Denkt man sich diese Beschränktheit weg, so ist Erkenntniß auch weggedacht—ein Auffassen von “absoluten Relationen” ist Unsinn. Der Irrthum ist also die Basis der Erkenntniß, der Schein. Nur durch die Vergleichung vieler Scheine entsteht Wahrscheinlichkeit, also Grade des Scheins.— Ebenso ist die Sprache eine angebliche und geglaubte Basis von Wahrheiten: der Mensch und das Thier bauen zunächst eine neue Welt von Irrthümern auf und verfeinern diese Irrthümer immer mehr, so daß zahllose Widersprüche entdeckt werden und dadurch die Menge der möglichen Irrthümer verringert wird, oder der Irrthum weiter getrieben wird. “Wahrheit” giebt es eigentlich nur in den Dingen, die der Mensch erfindet z. B. Zahl. Er legt etwas hinein und findet es nachher wieder—das ist die Art menschlicher Wahrheit. Sodann sind die meisten Wahrheiten thatsächlich nur negative Wahrheiten “dies und das ist jenes nicht” (obschon meist positiv ausgedrückt.) Letzteres ist die Quelle alles Fortschrittes der Erkenntniß. Die Welt ist also für uns die Summe der Relationen zu einer beschränkten Sphäre irriger Grundannahmen. Die Gesetze der Optik sind sämtlich Irrthümer, ebenso die des Ohrs. Gesetzt, es giebt zahllose empfindende Punkte in dem Dasein: jeder hat eine Sphäre, wie weit und wie stark er Relationen wahrnimmt, d. h. eine Sphäre der Beschränktheit und des Irrthums. Ebenso hat jede Kraft ihre Sphäre, sie wirkt so weit und so stark und nur auf das und jenes, auf anderes nicht, eine Sphäre der Beschränktheit. Ein eigentliches Wissen um alle diese Sphären und Beschränktheiten ist ein unsinniger Gedanke, weil hier ein Empfinden ohne ein “wie weit” “wie stark” “auf dies und jenes” gedacht werden soll: und ebenso eine Kraft ohne Grenzen, und zugleich mit allen Grenzen, die alle Relationen schafft—das wäre eine Kraft ohne bestimmte Kraft, ein Unsinn.— Also die Beschränktheit der Kraft, und das immer weiter in Verhältniß Setzen dieser Kraft zu andern ist “Erkenntniß.” Nicht Subjekt zu Objekt: sondern etwas Anderes. Eine optische Täuschung von Ringen um uns, die gar nicht existiren, ist die Voraussetzung. Erkenntniß, ist wesentlich Schein.