Frühjahr 1880 bis Frühjahr 1881 10 [1-101]
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Unsere Sinnenwelt ist gar nicht wirklich vorhanden, sie widerspricht sich: sie ist ein Trug der Sinne. Aber was sind dann die Sinne? Die Ursachen des Betrugs müssen real sein. Aber wir wissen von den Sinnen nur durch die Sinne, und das gehört mithin in die Welt des Truges. Somit trügt etwas, was wir nicht kennen, und sein erster Trug sind die Sinne. Unsere Vielheit gehört dazu: aber wie könnten wir Trugbilder zum Wissen um den Trug kommen? Wie könnte ein Traumbild wissen, daß es zum Traume gehöre?— Wir müssen folglich auch das sein, was trügt: d. h. wir müssen auch real sein, und zwar muß dorther unser Bewußtsein stammen, daß die Welt ein Trug ist, im rein Logischen: dies sind wir selber irgendwie. Also: wie kann das Wahre Wahrhafte die Ursache der Trugwelt sein?— Es muß sie nöthig haben: vielleicht ist das Wahre gequält wie ein Künstler und sucht eine Erlösung in lustvollen Vorstellungen und Bildern, eine Abziehung—die Wahrheit ist vielleicht der Schmerz, und der Schein ist eine Milderung, der Wechsel ist das Sichherumwerfen des schwer Leidenden, der eine bessere Lage sucht. Vielleicht aber auch ist das Wahre voller Lust und strömt über in Phantasien wie ein Künstler (Geburt der Tragödie) Die Welt ein aesthetisches Phänomen, eine Reihe von Zuständen am erkennenden Subjekt: eine Phantasmagorie nach dem Gesetze der Causalität. Daß der intellektuelle Prozeß erst am Thierreich hervortritt und ohne Thier keine Welt da sein könnte, gehört mit hinein in jenes Theaterspiel, das das Subjekt sich selber spielt: es ist ein Wahn. Die Geschichte ist eine Vermeintlichkeit—nichts mehr; die Causalität das Mittel, um tief zu träumen, das Kunststück, um über die Illusion sich zu täuschen, der feinste Apparat des artistischen Betruges.