Sommer 1883 8 [1-27]
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Typus der primitiven Geschlechtsgenossenschaft: eine Gruppe von Verwandten, von der gleichen Stammmutter her, in vollständiger Weiber-, Kinder- und Vermögensgemeinschaft lebend, so daß jede individuelle Ehe, jede individuelle Vater- und Elternschaft fehlt; alle Genossen gleich nahe verwandt, alles Eigenthum, bewegliches und unbewegliches als gemeinsam, alle Arbeit gemeinsam; aller Erlös gemeinsam verzehrt, alle Schulden gemeinsame Schulden der Genossenschaft, alle Blutsfreunde für jeden Blutrache übend und von der Blutschuld eines Blutfreundes mitgetroffen. [Vgl. Albert Hermann Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis. Bd. 2. Oldenburg: Schulz, 1881:18f.] Fremde durch Adoption aufgenommen. [Vgl. Albert Hermann Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis. Bd. 2. Oldenburg: Schulz, 1881:25.]
Über den Geschlechtern stehen Geschlechterverbände und Stämme. [Vgl. Albert Hermann Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis. Bd. 2. Oldenburg: Schulz, 1881:21.] Die Hausverwandtschaft grundverschieden davon als Vereinigungen von Abkömmlingen desselben Stammvaters. Schwerlich ein primitives Gebilde: Corporation Gruppe von Männern und Weibern, Kindern und Sklaven, vereinigt unter der patriarchalischen Gewalt eines Häuptlings oder Hausvaters. Mit eigenen Göttern, Recht Regierung, unveräußerlichem Boden. Nicht an die Existenz der einzelnen Genossen gebunden, Forterhaltung der Hausgemeinschaft erste Pflicht: und Zwang sich von einem unfruchtbaren Weibe zu scheiden: Strafbarkeit des Coelibats: bei Impotenz des Mannes war die Frau verpflichtet, sich von einem Verwandten des Mannes ein Kind zu schaffen. [Vgl. Albert Hermann Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis. Bd. 2. Oldenburg: Schulz, 1881:21, 24-26.]
Überall wo die Organisation auf dem Blutbande beruht, giebt es Blutrache: das Gesammtleben des Verbandes kommt zum Ausdruck, als unverständliche und über das Individuum hinausreichende Kraft, Gegenstand religiöser Verehrung. Grundtendenz: zwischen zwei Geschlechtern wird das Gleichgewicht wiederhergestellt; das Verschulden des Einzelnen ist gleichgültig, es ist Krieg zwischen Geschlechtern. Mit dem sich bildenden Staatswesen schmilzt die Blutrache zu einem Racheakt gegen den Thäter zusammen. [Vgl. Albert Hermann Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis. Bd. 2. Oldenburg: Schulz, 1881:143-145.]
Voraussetzung der Blutrache ist zunächst, daß sie eine Familien-Angelegenheit ist: die Gaugenossenschaft oder der Staat mischt sich zunächst nicht ein. [Vgl. Albert Hermann Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis. Bd. 1. Oldenburg: Schulz, 1880:153.] Aber sie setzt die höhere Organisation schon voraus: es ist Zweikampf zwischen Gleichgeordneten, Einem Ganzen Zugehörigen. Die Feindschaft gegen die Familie des Blutschuldigen ist grundverschieden von der Feindschaft gegen alles, was nicht zur höheren gemeinsamen Organisation gehört. Es fehlt die Verachtung, der Glaube an die tiefere Rasse des Feindes: in der Blutrache ist Ehre und Gleichberechtigung.
Friedloslegung: ein Genosse wird aus der Friedensgenossenschaft ausgestoßen; er ist jetzt vollkommen rechtlos. Leben und Gut können [ihm] von Jedermann genommen werden. Der Übelthäter kann bußlos von Jedermann erschlagen werden. Grundgefühl: tiefste Verachtung, Unwürdigkeit z.B. noch im moslemischen Recht bei Ketzerei oder Schmähung des Propheten: während es bei Mord und Körperverletzung lediglich Blutrache und friedensgenossenschaftliche Bußen kennt. Es ist Ächtung: Haus und Hof wird zerstört, Weiber und Kinder und wer im Hause wohnt, wird vernichtet, z. B. Im peruanischen Inkareiche, wenn eine Sonnen-Jungfrau sich mit einem Manne vergieng, mußte ihre ganze Verwandtschaft es mit dem Leben büßen, das Haus ihrer Eltern wurde dem Erdboden gleichgemacht usw. Ebenso in China, wenn ein Sohn den Vater tödtet. [Vgl. Albert Hermann Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis. Bd. 1. Oldenburg: Schulz, 1880:64-65, 72-73.]
Also: Vergehen, welche die Existenz der Gemeinde aufs Spiel setzen, fordern die Friedloslegung heraus: der verdorbene Sproß wird ausgetilgt. Was als eine solche heillose und grundverächtliche Handlung angesehen wird, richtet sich nach dem, was als Existenz-Bedingung der Gemeinde gilt—und kann folglich bei verschiedenen Gemeinden sehr verschieden sein. [Vgl. Albert Hermann Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis. Bd. 1. Oldenburg: Schulz, 1880:176.]
In der Praxis entstehen Milderungen aller Art, z. B. man läßt ihm Zeit, sich durch die Flucht zu entziehn. Verbannung und Vermögensconfiskation sind die letzten Ausläufer. Namentlich die beschimpfenden Strafen haben hier ihren Ursprung. [Vgl. Albert Hermann Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis. Bd. 1. Oldenburg: Schulz, 1880:178.]
Friedensgenossenschaft: Schutz- und Trutzverbände, in denen sich die Genossen gegenseitig Leben und Gut verbürgen, in denen der Fried[ens]brecher aus dem Frieden ausgestoßen wird, in denen Kinder, Weiber, Gut und Schuld gemeinsam sind—älteste Form.
Staatliche Bildung: ein von der Basis der Blutverwandtschaft gelöstes Königthum, ein öffentliches Staatsrecht, individuelles Eigenthum, individuelle Verhaftung für Verbrechen und Schulden—späteste Form. — [Vgl. Albert Hermann Post, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend-ethnologischer Basis. Bd. 2. Oldenburg: Schulz, 1881:6-7.]
Je bestimmter eine organische Einheit z. B. eine Gemeinde Heerde sich zum Bewußtsein kommt, um so stärker ist ihr Haß gegen das Fremde. Die Sympathie mit dem Zugehörigen und der Haß gegen das Fremde wachsen mit einander.
In Hinsicht auf die Continuität des gemeinschaftlichen Lebens und die Menge Gedanken, welche es in Anspruch nimmt: wie gering ist der Umfang, den die auf das Einzelwesen selbst bezüglichen Zwecke und Bilder in ihm einnehmen! Die socialen Triebe überwiegen bei weitem die individuellen. Die Thiere führen zu ihrem eignen Schaden Handlungen aus, die der Gruppe nützen. [Vgl. Alfred Victor Espinas, Die thierischen Gesellschaften: eine vergleichend-psychologische Untersuchung [De sociétés animales]. Nach der vielfach erw. 2. Aufl. unter Mitw. des Verf. deutsch hrsg. von W. Schloesser. Braunschweig: Vieweg, 1879:524-527.]
Die thierische Gesellschaft beruht, um uns der jetzigen moralischen Sprache zu bedienen (aber grundverschiedenen Empfindungen entsprechend), auf Liebe, Beständigkeit der Zuneigungen, Erziehung der Jungen, Arbeit, Sparsamkeit, Muth, Gehorsam bei den Schwachen, Besorgniß bei den Starken, Aufopferung bei Allen. [Vgl. Alfred Victor Espinas, Die thierischen Gesellschaften: eine vergleichend-psychologische Untersuchung [De sociétés animales]. Nach der vielfach erw. 2. Aufl. unter Mitw. des Verf. deutsch hrsg. von W. Schloesser. Braunschweig: Vieweg, 1879:541.] Keine Gesellschaft kann sich erhalten, ohne solche Eigenschaften, und in der erhaltenen werden diese Triebe vererbt: sie würden bei einem Grad von Stärke die Gesellschaft matt machen: aber es entwickeln sich antagonistische Kräfte innerhalb, in dem Grade als nach außerhalb Sicherheit eintritt. Und im vollendeten Zustand der Ruhe nach außen löst sich die Gesellschaft in Individuen auf: es bildet sich die Spannung, die früher zwischen Gemeinde und Gemeinde war. Damit erst giebt es Mitleid—als Empfindung zwischen Individuen, die sich als solche fühlen. (Die altruistischen Handlungen jener einheitlichen Urgesellschaften haben ein Ichgefühl zur Voraussetzung, aber ein Collektiv-Ich und sind grundverschieden vom Mitleiden.) Vielleicht empfand ein Geschlecht zu einem anderen Geschlecht innerhalb eines größeren Verbandes zuerst etwas wie Mitleid und Achtung, also nicht gegen Individuen. Hier ist der Ursprung des Mitleidens. Ich meine: die Blutrache ist die älteste Form dieser Achtung vor einem anderen Geschlecht: als Gegensatz zum absoluten Gefühl der Feindschaft.