Herbst 1885 - Frühjahr 1886 1 [1-100]
1 [46]
Die Religionen leben die längste Zeit, ohne mit der Moral verquickt zu sein: moralfrei. Man erwäge, was eigentlich jede Religion will—man kann es ja heute noch mit Händen greifen: man will durch sie nicht nur Erlösung von der Noth, sondern vor Allem Erlösung von der Furcht vor Noth. Alle Noth gilt als Folge von bösem, feindseligem Walten von Geistern: alle Noth, die einen trifft, ist zwar nicht “verdient,” aber es weckt den Gedanken, wodurch ein Geist gegen uns gereizt sein mag; der Mensch zittert vor unbekannten schweifenden Unholden und möchte sie hold stimmen. Dabei prüft er sein Verhalten: und wenn es überhaupt Mittel giebt, bestimmte Geister, die er kennt, sich freundlich zu stimmen, so fragt er sich, ob er auch wirklich Alles gethan habe, was er dazu hätte thun können. Wie ein Höfling sein Verhalten zu dem Fürsten prüft, wenn er an ihm eine ungenädige Stimmung wahrgenommen hat:—er sucht nach einer Unterlassung usw. “Sünde” ist ursprünglich das, wodurch irgend ein Geist sehr beleidigt werden könnte, irgend eine Unterlassung, ein — — — : da hat man etwas wieder gut zu machen.— Nur insofern ein Geist, eine Gottheit ausdrücklich auch gewisse moralische Gebote als Mittel, ihm zu gefallen und zu dienen hingestellt hat, kommt in die “Sünde” auch die sittliche Werthschätzung: oder vielmehr: dann erst kann ein Verstoß gegen ein sittliches Gebot als “Sünde” empfunden werden, als etwas, das von Gott trennt, ihn beleidigt und auch von seiner Seite Gefahr und Noth im Gefolge hat.