Sommer 1886 - Frühjahr 1887 6 [1-26]
6 [23]
Es macht mir wenig aus, ob sich heute Einer mit der Bescheidenheit der philosophischen Skepsis oder mit religiöser Ergebung sagt: “das Wesen der Dinge ist mir unbekannt” oder ein Andrer, Muthigerer, der noch nicht genug Kritik und Mißtrauen gelernt hat: “das Wesen der Dinge ist mir zu einem guten Theile unbekannt.” Beiden gegenüber halte ich aufrecht, daß sie unter allen Umständen noch viel zu viel zu wissen vorgeben, zu wissen sich einbilden, nämlich als ob die Unterscheidung, welche sie beide voraussetzen, zu Recht bestehe, die Unterscheidung von einem “Wesen der Dinge” und einer Erscheinungs-Welt. Um eine solche Unterscheidung machen zu können, müßte man sich unsern Intellekt mit einem widerspruchsvollen Charakter behaftet denken: einmal, eingerichtet auf das perspektivische Sehen, wie dies noth thut, damit gerade Wesen unsrer Art sich im Dasein erhalten können, andrerseits zugleich mit einem Vermögen, eben dieses perspektivische Sehen als perspektivisches, die Erscheinung als Erscheinung zu begreifen. Das will sagen: ausgestattet mit einem Glauben an die “Realität,” wie als ob sie die einzige wäre, und wiederum auch mit der Einsicht über diesen Glauben, daß er nämlich nur eine perspektivische Beschränktheit sei in Hinsicht auf eine wahre Realität. Ein Glaube aber, mit dieser Einsicht angeschaut, ist nicht mehr Glaube, ist als Glaube aufgelöst. Kurz, wir dürfen uns unsern Intellekt nicht dergestalt widerspruchsvoll denken, daß er ein Glaube ist und zugleich ein Wissen um diesen Glauben als Glauben. Schaffen wir das “Ding an sich” ab und, mit ihm, einen der unklarsten Begriffe, den der “Erscheinung”! Dieser ganze Gegensatz ist, wie jener ältere von “Materie und Geist,” als unbrauchbar bewiesen