Sommer 1872 - Anfang 1873 19 [151-330]
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Das Nachahmen ist darin der Gegensatz des Erkennens, daß das Erkennen eben keine Übertragung gelten lassen will, sondern ohne Metapher den Eindruck festhalten will
und ohne Consequenzen. Zu diesem Behufe wird er petrificirt: der Eindruck durch Begriffe eingefangen und abgegränzt, dann getödtet, gehäutet und als Begriff mumisirt und aufbewahrt.
Nun aber giebt es keine “eigentlichen” Ausdrücke und kein eigentliches Erkennen ohne Metapher. Aber die Täuschung darüber besteht, d. h. der Glaube an eine Wahrheit des Sinneneindrucks. Die gewöhnlichsten Metaphern, die usuellen, gelten jetzt als Wahrheiten und als Maaß für die seltneren. An sich herrscht hier nur der Unterschied zwischen Gewöhnung und Neuheit, Häufigkeit und Seltenheit.
Das Erkennen ist nur ein Arbeiten in den beliebtesten Metaphern, also ein nicht mehr als Nachahmung empfundenes Nachahmen. Es kann also natürlich nicht ins Reich der Wahrheit dringen.
Das Pathos des Wahrheitstriebes setzt die Beobachtung voraus, daß die verschiedenen Metapherwelten mit einander uneins sind und kämpfen z. B. der Traum, die Lüge usw. und die gewöhnliche usuelle Auffassung: davon die eine die seltnere, die andere die häufigere ist. Also der Usus kämpft gegen die Ausnahme an, das Regelmäßige gegen das Ungewöhnliche. Daher die Achtung der Tageswirklichkeit vor der Traumwelt.
Nun aber ist das Seltene und Ungewöhnliche das Reizvollere—die Lüge wird als Reiz empfunden. Poesie.