Sommer 1872 - Anfang 1873 19 [151-330]
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Als unter dem ersten Tumult des ausbrechenden letzten großen Krieges ein erbitterter französischer Gelehrter die Deutschen Barbaren nannte und den Mangel einer Kultur ihnen vorwarf, hörte man doch in Deutschland scharf genug, um dies gründlich übel zu nehmen und vielen Zeitungsschreibern gab es Gelegenheit, den nicht unbefleckten Harnisch ihrer Kultur einmal recht hell zu putzen und siegesgewiß mit ihm zu prunken. Man erschöpfte sich in Versicherungen, daß das deutsche Volk das gelehrigste gelehrteste sanftmüthig[st]e tugendhafteste und reinlichste von der Welt sei: selbst gegen den Vorwurf der Menschenfresserei und des Seeraubs fühlte man sich hinlänglich sicher. Als nun bald darauf eine Stimme jenseits des Kanals laut wurde und der ehrwürdige Carlyle eben jene Eigenschaften an den Deutschen öffentlich belobte und ihnen ihretwegen den Sieg mit segnenden Händen anwünschte, da war man über die deutsche Kultur im Reinen und nach dem Erfolg war es gewiß unschuldig vom Sieg der deutschen Kultur zu reden. Jetzt, wo die Deutschen Zeit haben manches damals uns zugeschleuderte Wort hinterdrein sich noch einmal anzusehn, dürfte es wohl Einige geben, welche erkennen, daß der Franzose recht hatte: die Deutschen sind Barbaren, trotz aller jener humanen Eigenschaften. Wenn man ihnen, den Barbaren, den Sieg wünschen mußte, so geschah dies natürlich nicht weil sie Barbaren sind, sondern weil die Hoffnung auf eine werdende Kultur die Deutschen heiligt: während es keine Rücksicht auf eine entartete und verbrauchte Kultur giebt: nicht das Weib das sein Kind entarten läßt, sondern das gebären wird ist den Gesetzen heilig. Daß sie im Übrigen noch Barbaren sind, war die Meinung Goethe’s, der alt genug wurde, um sogar diese Wahrheit den Deutschen sagen zu dürfen und an dessen Worte meine Betrachtungen anzuknüpfen ich mir erlauben muß, weil es mir niemand sonst erlauben möchte. Wir haben, sagte er eines Abends zu Eckermann — — — [Vgl. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Dritte Auflage. Dritter Theil. Leipzig: F. A. Brockhaus, 1868:114.]
Die letzte Wendung ist fein, denn sie läßt den Verehrern der Gegenwart die Möglichkeit, in einigen Jahrhunderten werde man sagen, es ist sehr lange her, daß die Deutschen nicht mehr Barbaren sind, nämlich seit der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts. Daß dies nicht eine beliebige Annahme ist, sondern daß wirklich jetzt große Massen an die erreichte deutsche Kultur glauben, aber mit Unrecht, dies will ich eben durch ein Beispiel beweisen. Zuerst ist aber der Begriff der Kultur festzustellen. Goethe setzt hinzu—vom Liede. Ganze Haufen Kriegslieder und Sonette, auch nicht eins aus einem neuen Tone — — —