Sommer 1872 - Anfang 1873 19 [151-330]
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Warum wollen wir nicht getäuscht werden?
— Wir wollen es in der Kunst. Wir begehren wenigstens für vieles die Unwissenheit d. h. auch die Täuschung.
Er will, soweit es zum Leben nöthig ist, nicht getäuscht werden d. h. er muß sich erhalten können, in diesem Bereich des Bedürfnisses will er Zutrauen haben dürfen.
Nur die Täuschung, die feindlich ist, verschmäht er, nicht die erfreuliche. Er flieht das Betrogenwerden, die schlimme Täuschung. Also im Grunde nicht die Täuschung, sondern die Folge der Täuschung und zwar die schlimme Folge. Also wo in seinem Zutrauen mit bösen Folgen getäuscht zu werden möglich ist, da verwirft er die Täuschung. Da will er die Wahrheit d. h. wieder er will die angenehmen Folgen. Die Wahrheit kommt nur in Betracht als Mittel gegen feindselige Täuschungen. Die Forderung der Wahrheit heißt: thue den Menschen durch Betrug nichts Böses. Gegen die reine, folgenlose Erkenntniß der Wahrheit ist der Mensch gleichgültig.
Dafür hat ihn die Natur auch nicht eingerichtet. Der Glaube an die Wahrheit ist der Glaube an gewisse beglückende Wirkungen.— Woher kommt nun alle Moralität des Wahrheitsverlangens? Bis jetzt ist alles egoistisch. Oder: wo wird das Wahrheitsverlangen heroisch und für das Individuum verderblich?