Herbst 1880 6 [101-200]
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Zu wissen, “dies ist gesund, dies erhält am Leben, dies schädigt die Nachkommen”—ist durchaus noch kein Regulativ der Moral! Warum leben? Warum durchaus froh leben? Warum Nachkommen?— Gesetzt, es wäre dies alles angenehmer als das Gegentheil, sterben, krank sein, ohne Nachkommen isolirt sein: so wäre vielleicht irgend etwas angenehmer als diese Annehmlichkeiten z. B. das Gefühl seiner Ehre oder einer Erkenntniß oder einer Wollust, deretwegen wir das Sterben oder die Krankheit oder die Einsamkeit wählen müßten. Warum die Gattung erhalten? Man verweist uns an die Triebe: aber es giebt weder einen Trieb der Selbsterhaltung, noch einen Trieb der Gattungs-Erhaltung. Das Nicht sein könnte uns werthvoller scheinen als das Sein: dann hat die physiologische Ethik nichts zu sagen. Oder wir uns selber als der Staat die Gesellschaft, die Menschheit. Was bestimmt denn dies Wertherscheinen? Ein Trieb. Die Moral kann nur befehlen—d. h. durch Furchterregung sich durchsetzen (also mit Hülfe eines Triebes), oder sie kann mit Hülfe eines anderen Triebes sich legitimiren—sie setzt immer schon ihre unmittelbare Bewiesenheit und überzeugende Kraft voraus, sie kommt, wenn der Trieb und die Werthschätzung bestimmter Art schon da ist. Dies gilt von allen Ethiken. Auch ein Trieb, individuell zu leben, ist da: ich denke in seinen Diensten. Andere, die ihn nicht haben, werden zu nichts von mir verpflichtet werden können. “Pflicht” ist der Gedanke, durch den ein Trieb sich souverän über die anderen Triebe stellt—immer mit Benebelung des Verstandes! mit einem bestochenen Diener!