Herbst 1880 6 [101-200]
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Die höhere Natur ist unvernünftiger als die gemeine, und hat einige Lust- und Unlusttriebe so stark, wie jener sie kaum glaublich sind. In Bezug auf diese pausirt ihr Denken mitunter oder tritt ganz in den Dienst. Man spricht von Leidenschaft; ihre Befriedigung ist ihr wichtiger als das Leben. Aber so auch die Trinker die Wollüstigen die Rachsüchtigen. Es muß das Objekt der Leidenschaft sein, was sie adelt und zum Zeichen der höheren Natur macht. Nicht Essen Trinken Wollust: sondern Dinge, welche selten stark empfunden werden z. B. Gedanken, Erkenntniß, das Wohl einer Stadt, eines Staates, der Menschheit, das Heil der Seele, das Glück Anderer. Also etwas, das gewöhnlich kalt läßt, ist hier Objekt der Leidenschaft—das macht die höhere Natur: ihr Geschmack richtet sich auf Ausnahmen. Es ist der individuelle Geschmack, der hier hervortritt: zu begreifen ist so eine Leidenschaft nicht, so wenig das Individuum zu begreifen ist. Die höhere Natur hat eine Singularität der Passion: sie ist nicht gemein, folglich nicht berechenbar. Ihre Unvernunft ist hierin groß; sie bringt einer Sache die größten Opfer, für die sie allein ein Werthmaaß hat: sie kehrt sich nicht an das Werthmaaß Anderer. Also: ein singuläres Werthmaaß im Gefühle haben macht die höhere Natur: entweder andere Dinge schätzen als geschätzt werden oder Dinge anders schätzen als sie g W.— Die gemeinen Naturen glauben nicht an die Verschiedenheit der Maaßstäbe d. h. sie glauben nicht an Individuen? “Ich glaube an Individuen”—so die höhere Natur?— Und sie betrügt sich oft, insofern sie individuelle Urtheile und Maaßstäbe bei Anderen voraussetzt und nicht jenen praktischen Kniff in der Hand hat, sie als Niveau-menschen zu verstehen (: wie Napoleon, der selber ein solcher war).
Eine Unterart: höhere Naturen, welche überall ihr eigenes Individuum, und ihren Maaßstab des Gefühls voraussetzen, ihre eigene Geschichte also—und nicht das Individuelle anerkennen, ebenso wenig als sie das Gemeine verstehen (z. B. Christus). Sie wissen sich selber nicht als individuell.— Die andere Art: sie wissen sich individuell, sie verstehen Individuen, aber sehen nur die Gemeinheit—diese müssen sie lernen. Vielleicht haben sie selbst die Gluth dafür, die Gemeinheit zu ergründen—es ist eine mögliche Passion (La Rochefoucauld?)