Herbst 1880 6 [201-300]
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Wenn wir essen spazierengehen gesellig oder einsam leben, es soll bis ins Kleinste die hohe Absicht unserer Leidenschaft uns dabei bestimmen, und zwar so daß sie die Vernunft und die Wissenschaft in ihren Dienst genommen und mit tiefer Gluth die gerade für sie passenden Weisungen von ihr abfragt. Nicht blind seinen wenn auch großen Trieben folgen: sondern die ganze bisherige Erkenntniß heranziehen: so allein denkt man hoch genug von sich: Alles, was bisher erkannt wurde, ist werth deiner Leidenschaft zu dienen. Wer sich leicht mit der Wissenschaft abfindet oder phantastisch wird bei ihrem Gebrauche, hat nicht die Tiefen untrüglicher Ehrfurcht vor seiner Leidenschaft, der kein Opfer zu groß ist. Unser Wesen auf die ganze Welt bisheriger Erfahrungen der Menschheit stützen!— Ihr macht Partei und übt Liebe und Haß—hättet ihr mehr Ehrfurcht vor eurem Werk, hieltet ihr es ernstlich für eine wichtige Angelegenheit, so würde ihr Grauen empfinden, euer Urtheil so zu blenden, ihr müßtet mit Gluth die Erkenntniß befragen und über euch selber redlich werden. Die Leidenschaft treibt uns immer wieder aus unserer Ruhe hinaus: unser Ideal will immer höhere Bestätigungen und Opfer, und dadurch selber immer wachsen und sich reinigen.— Ihr seid in euch verliebt, aber es ist eine vorübergehende Laune, ein kleines Stückchen Geschlechtstrieb, ihr ahnt es auch, daß man Launen mit Launen befriedigen muß, ihr seid nur beliebig! Oder ihr seid ehrgeizig verliebt in euer Ideal und thut für dasselbe alles, was unter Menschen Aufsehen und Ansehen macht, es ist euch Öffentlichkeit eurer Leidenschaft nöthig, im Stillsten und Geheimsten langweilt ihr euch dabei. Ihr schafft euer Werk, aber das Spiegelbild eurer selbst in den Köpfen Anderer ist das Ziel, das hinter dem Werke steht, es ist ein Vergrößerungsglas, das ihr den Anderen vor die Augen haltet, wenn sie nach euch hinblicken!— Viele machen ihr Werk ordentlich, wie sie es gewöhnt worden sind bei strengen Lehrern, sie sprechen von Pflichtgefühl und fordern Pflicht—aber sie haben einen Gewissensbiß, denn sie sollten nur etwas Außerordentliches thun!