Herbst 1880 6 [201-300]
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Wenn in die Seele eines Kindes in einer abergläubischen Umgebung und Zeit der Gedanke fällt “du bist der Sohn Gottes” und es früh an durch die Frömmigkeit seiner Mutter belehrt wird, daß dieser Gott heilig ist und Heiligkeit will: dazu ein sanftes Temperament und eine glühende visionäre Phantasie, ein durch Enthaltsamkeit und Einsamkeit erzogenes Vertrauen zu sich selber: so einer kann zum Glauben sündlos zu sein kommen, sobald er als Sohn Gottes sich glaubt und somit seinen eigenen Befehlen gehorcht—sublime Art des Stolzes. Als Gesetzgeber ist er dem Gesetz überlegen, er kann Höheres darüber hinaus zeigen, es vollenden: wie ungereimt für ihn, etwas zu thun, das wider seine fixe Idee geht! Von dieser Höhe aus sehnt er sich nach Liebe—die Menschen sollen an ihn glauben: dies ist das Einzige was ihm fehlt, und dafür will er ihnen alles geben, was er kann z. B. Gottes Gnade. Die: Kinder, die Armen, die Dummen, die Verachteten, die sich selber Verachtenden sind seine Lieblinge. Er dichtet sich seinen Gott nach seinem Bilde, so daß er Liebe erweisen kann als Gott: er eliminirt und schwächt Vorstellungen, aus denen ein anderer Gott sich ergiebt. Seine Redlichkeit gegen sich ist sehr gering, er hat weder in Bezug auf seinen Glauben als Gottessohn ein feines Gewissen, noch in Bezug auf seine Erkenntniß der Natur und des Menschen. Er belügt sich, ganz im Dienste seiner Leidenschaft: was er nicht kennt, schätzt er nicht, er behandelt sich als Maaß der Dinge, mit der Unerfahrenheit eines einsamen Schäfers, der nur Schafe um sich hat. Sein wunder Punkt ist, daß die Menschen ihm nicht glauben wollen, während er sich selber glaubt: und hierbei wird seine Phantasie grausam und düster, und er dichtet die Hölle für die, welche nicht an ihn gl. Sein Mangel an Bildung schützt ihn davor, sich die Entstehung einer Leidenschaft vorzustellen und sich selber einmal objektiv zu sehen: er steht nie über sich (wie z. B. Napoleon) Das Furchtbarste, ewig Unsühnbare der Menschen wurde das Verschmähen seiner Liebe—dies ist ein gemeiner Zug. Ebenso seine Verdächtigung der Reichen, des Geistes, des Fleisches—seine Milde und Nachsicht ist kurz und ganz egoistisch.