Sommer 1880 3 [101-172]
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175. Der Dichter scheint fortwährend Zugänge zu einer neuen oder besseren Erkenntniß von Natur und menschlichen Dingen zu eröffnen: bevor man noch recht begriffen hat, daß was hier so aufregend winkt, ein Irrlicht ist, gaukelt schon wieder ein anderes vor den Sinnen. Die Vergleichungen, die Metaphern des Dichters sind von ihm durchaus nicht als solche gegeben, sondern als neue, bisher unerhörte Identitäten, vermöge deren ein Reich der Erkenntniß sich zu eröffnen scheint. Je weniger noch darüber fest steht, was in der Natur wirklich wahr und erwiesen ist, um so stärker ist die Wirkung des Dichters, um so größer seine Schauspielerkunst, zeitweilig den Ergründer der Natur zu repräsentiren. Die Frage, wie weit etwas, das ein Dichter sagt, wahr ist, ist eine Pedanterie. Aller Werth liegt gerade darin, daß es nur einen Augenblick wahr scheint, und dies gilt von seiner gesammten Weltbetrachtung, seiner moralischen Ordnung, seinen moralischen Sentenzen ebenso sehr wie von seinen Gleichnissen, seinen Charakteren, seinen Geschichten. Eine ernsthafte, der Wissenschaft zugehörige Meinung damit bekräftigen wollen, daß irgend ein Tragiker etwas Ähnliches gesagt hat, ist eine Albernheit: Dichter haben in Dingen der Erkenntniß immer Unrecht, weil sie als Künstler täuschen wollen und als Künstler gar nicht das Bestreben nach höchster Wahrhaftigkeit verstehen; sagen sie zufällig etwas Wahres, so ist ihre Autorität nicht geeignet, Glauben, sondern Mißtrauen zu erwecken. Es ist ein solcher Genuß, daß der erkennen wollende Trieb auch einmal mit sich spielt und von einem Zweige zum andern hüpft, mit reizenden Tönen und bunten Federchen geschmückt—und wir sollten Narren sein und da ein Orakel erwarten, wo ein Vogel singt und tirilirt!