Sommer 1880 3 [101-172]
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247. Welches auch immer die Stufe der Gesittung, die Lage der Gesellschaft, der Grad der Erkenntniß sei: für das Individuum ist immer dabei eine Art glücklichen Lebens möglich,—das wollen ihm die Religion und die Moral aus der Nähe zeigen und anempfehlen. Ob das Gefühl des Glücks und die Unvermischtheit desselben mit Leid wirklich wächst mit Zunahme der Erkenntniß, Verbesserung der gesellschaftlichen Lage, Erleichterung des Lebens, ist zu bezweifeln, denn es gehen bei diesem Wachsthum immer Kräfte verloren oder werden schwach, denen man ehemals das Glücksgefühl vornehmlich dankte: die Sicherheit und die Verlängerung des Lebens, worauf sich unsere moderne Welt als ihre Errungenschaften so viel zu Gute thut, sind vielleicht durch Abnahme des Glücksgefühls als durch Zunahme erkauft worden. Die Cultur um des Glücks der Einzelnen willen fördern—das wäre dem nach eine sehr zweifelhafte und vielleicht thörichte Sache!—aber sind wir einmal irgendwie im Glück, so können wir gar nicht anders als die Cultur fördern! Das neue hohe Vertrauen auf uns, die Befriedigung an unserer Kraft, das Aufhören der Furcht vor Anderen, das Verlangen nach ihrer Nähe, der Ringkampf mit ihnen im Guten, der Überschuß an Vermögen, Werkzeugen, Kindern, Dienern, dessen wir bewußt werden,—in summa: jede Art von Glücksgefühl treibt uns in die Bahnen der höheren Cultur und in ihnen vorwärts. Noth dagegen bildet uns zurück, macht uns defensiv, argwöhnisch, in der Sitte abergläubisch und überstreng. Die Cultur ist eine allmähliche Folge vom Glück zahlloser Einzelner, nicht die Absicht dieser Einzelnen!— Je individueller der Einzelne wird, um so produktiver für die Cultur wird sein Glück sein, selbst wenn dessen Zeitdauer kürzer und dessen Intensität geringer und gebrochener sein sollte, als das Glück auf niedrigeren Culturstufen. Wenn man die Förderung der Cultur dem Glücklichen versagen wollte, um das Glück im Allgemeinen auf einem hohen Grade zu erhalten, so wäre das so thöricht als dem Seidenwurme das Spinnen zu verbieten um des Glücks der Seidenwürmer willen. [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Torquato Tasso, V 2, 3083-3084. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 13. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1856. "Verbiete du dem Seidenwurm, zu spinnen; / Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt."] Was hat man denn vom Glück jeder Art, wenn nicht eben aus ihm etwas zum Besten der Cultur thun zu müssen?— Glück ist gar nicht zu erhalten weder hoch, noch niedrig, wenn man seine nothwendigen Äußerungen unterbinden wollte. Also: die Cultur ist die Äußerung des Glücks.