Frühjahr 1884 25 [401-526]
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Warum die Ethik am meisten zurückgeblieben? Denn noch die letzten berühmten Systeme sind Naivetäten! Ebenso die Griechen! Die Lehren des Christenthums von der Sünde sind hinfällig geworden wegen des Hinfalls Gottes.
— unsere Handlungen gemessen an unserem Vorbilde! Aber daß wir ein Vorbild haben und ein solches, ist schon Folge einer Moral.
— der Jude, der sich an seinem Gotte maß—das hatte im Hintergrunde den Willen, sich selber zu verachten, und sich auf Gnade und Ungnade vor ihm niederzuwerfen.— Selbst Jesus wehrte sich dagegen, gut genannt zu werden. “Keiner ist gut, als Gott,” sagte er. Daß ihn Niemand einer Sünde zeihen konnte, ist etwas anderes: dies beweist nichts gegen die Kritik vor seinem Gewissen. Ein Mensch, der sich absolut gut fühlt, müßte geistig ein Idiot sein.
— dieses Auf-Gnade-und-Ungnade-sich-niederwerfen ist im Christenthum orientalisch: nicht vornehm!
— das Sklavenhafte an den jetzigen Juden, auch an den Deutschen —
— Dies Sich-gleich-setzen, im Mitleiden, ist bereits die Consequenz eines moral[ischen] Urtheils: kein Grundphänomen und nicht überall: überdies ist es in der Seele des Heerden-Wesens ein anderes als in der Seele des Mächtigen: eigentlich nur ein Gefühl unter Gleichen—: für den Geringeren ist der leidende Höhere ein Grund zum Wohlgefühl und Übergefühl.
— “die philosophischen wie die religiösen Systeme sind darüber einig, daß die ethische Bedeutsamkeit der Handlungen zugleich eine metaphysische sein müsse” usw. usw. Schopenhauer, Gr[undlage] der Moral p. 261. [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 4: Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik. Die beiden Grundprobleme der Ethik. Preisschrift über die Grundlage der Moral. Leipzig: Brockhaus, 1874:261.] Perikles vor dem Tode: die Gedanken nehmen eine moralische Richtung.
Nun, im Falle des Pericles: er erwägt seinen Nachruf bei seinen Bürgern. Der Schüler des Anaxagoras war Freigeist.— Es liegt auf der Hand, daß, weil diese Systeme das Leben der Seele glauben, sie im Momente des Todes ein Urtheil über den Werth des vollbrachten Lebens veranlassen:—was für ein ferneres Leben werden wir haben?
Belohnung der Guten und Bestrafung der Bösen im Jenseits war das Zuchtmittel, welches die Religionen anwendeten, eine Art Vollendung der Welt-Ordnung, ein Ausgleich gegenüber den Thatsachen.