August-September 1885 41 [1-16]
41 [2]
Neue unzeitgemässe Betrachtung.—
1.
Man verehrt und verachtet in jungen Jahren wie ein Narr und bringt wohl seine zartesten und höchsten Gefühle zur Auslegung von Menschen und Dingen dar, welche nicht zu uns gehören, so wenig als wir zu ihnen gehören. Jugend selber ist etwas Fälschendes und Betrügerisches. Es scheint, daß das Ehrfürchtige und Zornige, was der Jugend eignet, durchaus keine Ruhe hat, als bis es sich Menschen und Dinge so zurecht “gefälscht” hat, bis es an denselben seine Affekte entladen kann. Später, wo man stärker, tiefer, auch wahrhaftiger geworden ist, erschrickt man zu entdecken, wie wenig man damals die Augen offen gehabt hat, als man auf diesen Altären opferte. Man zürnt sich, all das Eitle, Übertreibende, Unächte, Geschminkte, Schauspielerische an unseren geliebten Götzen nicht gesehn zu haben,—man zürnt sich wegen dieser Selbst-Verblendung. Wie als ob sie eine unredliche Blindheit gewesen sei. In diesem Übergange nimmt man Rache an sich, durch Mißtrauen; man ist auf der Hut vor seinen begeisterten Gefühlen—ja “das gute Gewissen” selber erscheint Einem schon wie eine Gefahr, wie eine Selbst-Verschleierung und Ermüdung der eigenen Redlichkeit. Wieder ein Jahrzehend später: und man begreift, daß auch dies Alles noch—Jugend war.—
2.
— Was ich selber einstmals, in meinen “jungen Jahren,” über Schopenhauer und Richard Wagner schrieb und weniger schrieb als malte—vielleicht in einem allzuverwegenen übermüthigen überjugendlichen al fresco—das will ich am wenigsten heute auf “wahr” und “falsch” hin ins Einzelne prüfen. Gesetzt aber, ich hätte mich damals geirrt: mein Irrthum gereicht zum Mindesten weder den Genannten, noch mir selber zur Unehre! Es ist etwas, sich so zu irren; es ist auch etwas, gerade mich dergestalt zum Irrthume zu verführen. Auch war es mir in jedem Falle eine unschätzbare Wohlthat, damals als ich “den Philosophen” und “den Künstler” und gleichsam meinen eigenen “kategorischen Imperativ” zu malen beschloß,—meine neuen Farben nicht ganz in’s Unwirkliche hinein, sondern gleichsam auf vorgezeichnete Gestalten aufmalen zu können. Ohne daß ich es Wußte, sprach ich nur für mich, ja im Grunde nur von mir. Indessen: Alles, was ich damals erlebt habe, das sind für eine gewisse Art von Menschen typische Erlebnisse, welchen zu einem Ausdruck zu verhelfen — — — Und wer mit einer jungen und feurigen Seele jene Schriften liest, wird vielleicht die schweren Gelöbnisse errathen, mit denen ich damals mich für mein Leben band,—mit denen ich mich zu meinem Leben entschloß: möchte er Einer jener Wenigen sein, die sich zu einem gleichen Leben und zu gleichen Gelöbnissen entschließen—dürfen!
3.
Es gab einen Zeitpunkt, wo ich im Geheimen anfieng, über Richard Wagner zu lachen, damals als er zu seiner letzten Rolle sich anschickte und mit den Gebärden eines Wundermanns, Heil-Verkünders, Propheten, ja sogar Philosophen vor den lieben Deutschen auftrat. Und da ich noch nicht aufgehört hatte, ihn zu lieben, so biß mich mein eignes Gelächter noch in’s Herz: wie es zur Geschichte eines Jeden gehört, der von seinem Lehrer unabhängig wird und endlich seinen eignen Weg findet. In dieser Zeit entstand der hier folgende lebhafte Aufsatz, aus dem, wie mir scheint, mancher junge Deutsche auch heute noch seinen Gewinn ziehen kann:—ich selber, so wie ich jetzt gesinnt bin, würde Alles geduldiger, auch herzlicher und schonender gesagt wünschen. Inzwischen errieth ich Allzuviel von der schmerzlichen und schauerlichen Tragödie, welche hinter dem Leben eines solchen Menschen, wie Richard Wagner es war, verborgen liegt.
4.
Richard Wagner hat ohne allen Zweifel den Deutschen usw.
5.
Aber der Musiker Richard Wagner?— “Richard Wagner und kein Ende”: das ist heute die Loosung.
Aber wir Freunde der Musik sind damit am Ende unserer Geduld. Wir haben so lange die beste Miene zum bösen Spiele der Wagnerei gemacht und mit Hülfe aller Tugenden und Ästhetiken uns einen ganzen langen Regentag hindurch zugeredet und ermahnt: “wie schön ist auch das schlechte Wetter! Wie viel Reize liegen in den Falten des Unwetters versteckt! Wie fein sich der Regen auf die ‘unendliche Melodie’ versteht! Wie unvergleichlich leuchtet ein Blitz inmitten langer grauer Trübsal! Und gar der Donner: wie schön ist die Chromatik des Donners!” Aber endlich, endlich wollen wir auch den aufgeklärten Himmel wieder sehn und zum Mindesten den schönen Abend haben, den wir verdienen, nach einem so tugendhaften, aber so bösen Tage!— Wirklich? Den Abend? Will es denn wirklich schon “Abend werden”? Geht nun auch noch unsre beste Kunst, die Musik, auf die Neige? Meine Freunde, hier ist Einer, der nicht mehr daran glaubt! Es ist noch lange nicht Zeit für den Abend! Und Wagner bedeutete weder den Tag, noch den Abend unserer Kunst,—sondern nur einen gefährlichen Zwischenfall, eine Ausnahme und ein Fragezeichen, welches unser Gewissen auf die Probe gestellt hat! Noch zur rechten Zeit lernten wir Nein! sagen: jeder rechtschaffne und tiefe Musiker sagt heute Nein zu Wagner und zu sich selber, so weit er noch “wagnerisirt”—und zwar je gründlicher gerade er bei Wagner in die Schule gegangen, bei Wagner gelernt hat.
6.
Um so schlimmer mag es freilich um die geringer begabten, auch um die geld- und ehrgeizigen Musiker bestellt sein: es giebt gerade für sie ausgesuchte Verführungen in der Art Wagner’s, Musik zu machen. Es ist nämlich leicht, mit Wagnerischen Mitteln und Kunstgriffen zu componiren, es mag auch, bei dem demagogischen Verlangen heutiger Künstler nach Aufregung der “Massen,” lohnbringender sein, nämlich “wirkungsvoller,” “überwältigender,” “schlagender,” “packender,” und wie die verrätherischen Lieblingsworte des Theaterpöbels und der dilettantischen Schwärmer lauten. Aber was bedeutet zuletzt, in Sachen der Kunst, der Lärm und die Begeisterung von “Massen”! Gute Musik hat niemals ein “Publikum”:—sie ist und kann niemals “öffentlich” sein, sie gehört den Ausgesuchtesten zu, sie soll immer und allein—im Gleichnisse gesprochen—für die “camera” da sein! “Massen” fühlen den heraus, der ihnen am besten zu schmeicheln versteht, sie sind auf ihre Art allen demagogischen Talenten dankbar und geben es ihnen zurück, so gut sie können. (Wie “Massen” zu danken verstehen, mit welchem “Geiste” und “Geschmacke,” dafür gab der Tod Victor Hugo’s ein belehrendes Zeugniß: ist in allen Jahrhunderten Frankreichs zusammen so viel Frankreich entwürdigender Unsinn gedruckt und geredet worden, wie bei dieser Gelegenheit? Aber auch bei dem Begräbnisse Richard Wagner’s verstiegen sich die Schmeicheleien der Dankbarkeit bis hinauf zu dem “frommen” Wunsche: “Erlösung dem Erlöser!”—)
NB. Es ist kein Zweifel, daß die W[agnerische] Kunst heute auf die Massen wirkt: daß sie das kann—sollte damit nicht über diese Kunst selber etwas ausgesagt sein? Für drei gute Dinge in der Kunst haben “Massen” niemals Sinn gehabt, für Vornehmheit, für Logik und für Schönheit—pulchrum est paucorum hominum—: um nicht von einem noch besseren Dinge, vom großen Stile zu reden, zu welchem bisher auch die höchstgearteten Künstler der neueren Zeit weder Ja noch Nein sagen durften:—sie haben noch kein Recht auf ihn gehabt, sie fühlten sich vor ihm ferne und beschämt, und diese Scham war gerade noch ihre höchste Höhe! Vom großen Stile steht Wagner am Fernsten: das Ausschweifende und Heroisch-Prahlerische seiner Kunstmittel steht geradezu im Gegensatze zum großen Stile; und ebenso das Zärtlich-Verführerische, das Vielfältig-Reizende, das Unruhige, Ungewisse, Spannende, Augenblickliche, Heimlich-überschwängliche, die ganze “übersinnliche” Maskerade kranker Sinne, und was nur Alles im typischen Sinne “Wagnerisch” heißen darf. Und dennoch, trotz dem gründlichsten Unvermögen dazu: Wagner schielt nach dem großen Stile, er, der nicht einmal die gewöhnliche, rechte, ächte Logik vermag! Er weiß dies gut genug, er erkannte es zeitig: aber sofort gieng er daran, mit der unbedenklichen Schauspieler-Gewandtheit die seine Meisterschaft ausmacht, sich seinen Mangel zum Vortheile auszulegen. Es liegt im Unlogischen, Halblogischen viel Verführerisches:—das hat Wagner gründlich errathen—: namentlich für Deutsche, bei denen Unklarheit als “Tiefe” empfunden wird. Die Männlichkeit und Strenge einer logischen Entwicklung war ihm versagt: aber er fand “Wirkungsvolleres”! “Die Musik, hat er gelehrt, ist immer nur ein Mittel, der Zweck ist das Drama.” Das Drama? Nein, die Attitüde!—so wenigstens verstand es Wagner bei sich selber. Vor allem und zuerst die ergreifende Attitüde! Etwas, das umwirft und schaudern macht! Was liegt am “zureichenden Grunde”! Eine Art Vieldeutigkeit, selbst in der rhythmischen Phrasirung, gehört insgleichen unter seine liebsten Kunstmittel, eine Art Trunkenheit und Traumwandeln, welches nicht mehr zu “folgern” weiß und einen gefährlichen Willen zum blinden Folgen und Nachgeben entfesselt.
Man sehe nur unsre Frauen an, wenn sie “wagnetisirt” sind: welche “Unfreiheit des Willens”! Welcher Fatalismus im erlöschenden Blicke! Welches Geschehen-Lassen, über-sich-ergehen-lassen! Vielleicht ahnen sie sogar, daß sie, in diesem Zustande des “ausgehängten” Willens, einen Zauber und Reiz mehr für manche Art Männer haben?: welcher Grund mehr zur Anbetung ihres Cagliostro und Wundermanns! Bei den eigentlichen “Mänaden” der Wagner-Anbetung darf man unbedenklich sogar auf Hysterie und Krankheit schließen; irgend Etwas ist in ihrer Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung; oder es fehlt an Kindern, oder, im erträglichsten Falle, an Männern.
Was die Jünglinge betrifft, welche Wagner’n huldigen, so sind sie gemeinhin schlecht musikalisch. (Einer von den Besten sagte mir sogar einmal treuherzig “ich verstehe gar nichts von Musik, aber Wagner vereinigt alles Gute, was es heute giebt—er ist Antisemit, Vegetarianer und verabscheut die Vivisektion”) Die Wagnerischen Jünglinge, in manchem Betracht eine sehr erquickliche und edle Art von Jünglingen,—verehren in Wagnern ungefähr das Gleiche, was die leidenschaftlichen jünger Victor Hugo’s gegen 1828 in ihrem Abgotte verehrten: vor Allem den Meister großer Worte und Gebärden, den Fürsprecher aller schwellenden Gefühle, aller erhabenen Instinkte, sodann den wagenden Neuerer und Kettenlöser im Kampfe und Gegensatze zur älteren strengeren, vielleicht beschränkteren Kunstschulung, den Eröffner neuer Zugänge, neuer Ausblicke, neuer Fernen, neuer Tiefen und Höhen, endlich, und nicht am Wenigsten: diese deutsche Jugend verehrt an Wagnern das Befehlerische, die Fähigkeit, lärmend zu kommandiren, auf sich allein zu stehen, auf sich allein zurückzuweisen, hartnäckig zu sich selber Ja zu sagen, und immer im Namen des “auserwählten Volks,” der Deutschen!—kurz, das Volkstribunenhafte und Demagogische an Wagner. Von welchem schlechten, ja abscheulichen Geschmacke diese ganze “Selbst-in-Scene-Setzung” Wagner’s ist, davon sehen solche begeisterte Jünglinge noch Nichts: die Jugend hat einmal das Recht zum schlechten Geschmack,—es ist ihr Recht. Will man aber kennen lernen, wohin die Unschuld und die unbedenkliche Bereitwilligkeit von Jünglingen durch einen alten umgetriebenen Rattenfänger geführt und verführt werden kann, so werfe man einen Blick auf jenen litterarischen Sumpf, aus welchem zuletzt der altgewordene Meister mit seinen “Jungen” zu singen liebt (ist “Singen” das rechte Wort?) ich meine die übel berufenen “Bayreuther Blätter.” Das ist wirklich ein Sumpf: Anmaaßung, Deutschthümelei und Begriffswirrwarr im trübsten Durcheinander, ein unausstehlicher Zucker “süßesten” Mitleidens darüber gegossen, dazwischen jene schon angedeutete Neigung für grüne Gemüse und jene zweckbewußte Salbung und Rührseligkeit zu Gunsten der Thiere, dicht neben dem ungeschminkten ächten und gründlichen Hasse auf die Wissenschaft und überhaupt der Verhöhnung und Beschmutzung alles dessen, was Wagnern im Wege steht und stand—wie stand seinem Einflusse die vornehmere Natur Mendelssohns, die reinere Natur Schumann’s im Wege!—dabei ein kluges Ausschielen nach neuen Hülfstruppen, ein “Entgegenkommen” nach der Seite mächtiger Parteien hin, zum Beispiel das vollends unsaubere Spielen und Äugeln mit christlichen Symbolen—Wagner, der alte Atheist, Antinomist und Immoralist, ruft sogar einmal salbungsvoll das “Blut des Erlösers” an!—im Ganzen die Frechheit eines alten dick-umräucherten Oberpriesters, der über alle erdenklichen gerade ihm gänzlich entzogenen und verbotenen Bereiche des Denkens seine dunklen Gefühle wie Offenbarungen verlautbart; und dies Alles in einem Deutsch, einem eigentlichen Sumpf-Deutsch der Unklarheit und Übertreibung, wie es vielleicht selbst von den “deutsch”-feindlichsten Schülern Hegel’s nicht erreicht worden ist!
8.
Vielleicht, daß nunmehr erst deutlich gemacht werden kann, wohin Wagner gehört: nämlich nicht in die große Reihe der Eigentlichen und Ächten höchsten Ranges, nicht an diesen olympischen “Hof der Höfe.” Vielmehr gebührt Wagnern ein ganz anderer Rang und eine ganz andere Ehre—und in der That, keine kleine und gemeine: Wagner ist eines von jenen drei Schauspieler-Genie’s der Kunst, von welchen die Menge in diesem Jahrhundert—und es ist ja das “Jahrhundert der Menge”!—beinahe erst den Begriff “Künstler” gelernt hat: ich meine jene drei wunderlichen und gefährlichen Menschen, Paganini, Liszt, Wagner, welche, fragwürdig in die Mitte gestellt zwischen “Gott” und “Affe,” ebenso sehr zum “Nachmachen” als zum Erfinden, zum Schaffen in der Kunst des Nachmachens selber vorherbestimmt waren, und deren Instinkt alles errathen hat, was zum Zweck des Vortrags, des Ausdrucks, der Wirkung, der Bezauberung, der Verführung ausfindig und ausgiebig gemacht werden kann. Als dämonische Mittler und Kunst-Interpreten wurden sie—und sind sie heute die Meister aller Künstler der Interpretation überhaupt: Jedermann in diesen Kreisen hat von ihnen gelernt;—unter Schauspielern und ausübenden Spielleuten jeder Art wird man deshalb auch den Heerd und insgleichen die Herkunft des eigentlichen “Wagner-Cultus” zu suchen haben. Abgesehen aber von diesen Kreisen, denen man alles Recht zu ihrem Glauben und Aberglauben zusprechen darf, und im Hinblick auf die gesammte Erscheinung jener drei Schauspieler-Genies und ihren geheimsten und allgemeinsten Sinn komme ich bei mir nicht darüber hinweg, immer dieselbe Frage wieder aufzuwerfen: was sich in jenen Dreien scheinbar neu ausdrückt, ist das vielleicht doch nur der alte und ewige “Cagliostro,” nur neu verkleidet, neu in Scene gesetzt, “in Musik gesetzt,” in Religion gesetzt—wie es dem Geschmack des neuen Jahrhunderts—dem Jahrhundert der Menge, wie gesagt,—am besten entsprechen mag? Also nicht mehr wie der letzte Cagliostro als der Verführer einer vornehmen und ermüdeten Cultur, sondern—als demagogischer Cagliostro?— Und unsre Musik, mit deren Hülfe hier “gezaubert” wird:—was, ich bitte und frage euch, bedeutet unsere d[eutsche] M[usik]!
9.
— Dieser letzte Wagner, im Grunde ein zerbrochner und überwundener Mensch, der aber die große Schauspielerei nicht lassen konnte, dieser Wagner, der zuletzt gar noch von den “Entzückungen” sprach, die er dem protestantischen Abendmahle abzugewinnen wisse, während er zu gleicher Zeit mit seiner Parsifal-Musik allem eigentlich Römischen die Hände entgegenstreckte: dieser überallhin sich anbietende Schmeichler aller deutschen Eitelkeiten, Unklarheiten und Anmaaßungen,—dieser letzte Wagner sollte der letzte und höchste Gipfel unsrer Musik und der Ausdruck der endlich erreichten Synthesis der “deutschen Seele” sein, der Deutsche selber?— Es war im Sommer 1876, daß ich diesem Glauben bei mir abschwur; und damit begann jene Bewegung des deutschen Gewissens, von der sich heute immer ernstere, immer deutlichere Zeichen zu erkennen geben,—und der Rückgang der Wagnerei!