August-September 1885 41 [1-16]
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Die deutsche Philosophie als Ganzes—Leibnitz, Kant, Hegel, Schopenhauer, um die Großen zu nennen—ist die gründlichste Art Romantik und Heimweh, die es bisher gab: das Verlangen nach dem Besten, was jemals war. Man ist nirgends mehr heimisch, man verlangt zuletzt nach dem zurück, wo man irgendwie heimisch sein kann, weil man dort allein heimisch sein möchte: und das ist die griechische Welt! Aber gerade dorthin sind alle Brücken abgebrochen,—ausgenommen die Regenbogen der Begriffe! Und die führen überall hin, in alle Heimaten und “Vaterländer,” die es für Griechen-Seelen gegeben hat! Freilich: Man muß sehr fein sein, sehr leicht, sehr dünn, um über diese Brücken zu schreiten! Aber welches Glück liegt schon in diesem Willen zur Geistigkeit, fast zur Geisterhaftigkeit! Wie ferne ist man damit von “Druck und Stoß,” von der mechanistischen Tölpelei der Naturwissenschaft, von dem Jahrmarkts-Lärme der “modernen Ideen”! Man will zurück, durch die Kirchenväter zu den Griechen, aus dem Norden nach dem Süden, aus den Formeln zu den Formen; man genießt noch den Ausgang des Alterthums, das Christenthum, wie einen Zugang zu ihm, wie ein gutes Stück alter Welt selber, wie ein glitzerndes Mosaik antiker Begriffe und antiker Werthurtheile. Arabesken, Schnörkel, Rokoko scholastischer Abstraktionen—immer noch besser, nämlich feiner und dünner, als die Bauern- und Pöbel-Wirklichkeit des europäischen Nordens, immer noch ein Protest höherer Geistigkeit gegen den Bauernkrieg und Pöbel-Aufstand, der über den geistigen Geschmack im Norden Europa’s Herr geworden ist und welcher an dem großen “ungeistigen Menschen,” an Luther, seinen Anführer hatte:—In diesem Betracht ist deutsche Philosophie ein Stück Gegenreformation, sogar noch Renaissance, mindestens Wille zur Renaissance, Wille, fortzufahren in der Entdeckung des Alterthums, in der Aufgrabung der antiken Philosophie, vor Allem der Vorsokratiker—, der best-verschütteten aller griechischen Tempel! Vielleicht, daß man einige Jahrhunderte später urtheilen wird, daß alles deutsche Philosophiren darin seine eigentliche Würde habe, ein schrittweises Wiedergewinnen des antiken Bodens zu sein, und daß jeder Anspruch auf “Originalität” kleinlich und lächerlich klinge im Verhältnisse zu jenem höheren Anspruche der Deutschen, das Band, das zerrissen schien, neu gebunden zu haben, das Band mit den Griechen, dem bisher höchst gearteten Typus “Mensch.” Wir nähern uns heute allen jenen grundsätzlichen Formen der Weltauslegung wieder, welche der griechische Geist, in Anaximander, Heraklit, Parmenides, Empedokles, Demokrit und Anaxagoras, erfunden hat,—wir werden von Tag zu Tage griechischer, zuerst, wie billig, in Begriffen und Werthschätzungen, gleichsam als gräcisirende Gespenster: aber dereinst, hoffentlich auch mit unserem Leibe! Hierin liegt (und lag von jeher) meine Hoffnung für das deutsche Wesen!