August-September 1885 41 [1-16]
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Vorrede.
Wer die Begierden einer hohen und wählerischen Seele hat und nur selten seinen Tisch gedeckt, seine Nahrung bereit findet, dessen Gefahr ist heute keine geringe. In ein lärmendes und pöbelhaftes Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schüssel essen mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich dennoch “zugreift”—, vor Ekel zu Grunde gehn. Dies war die Gefahr meiner Jugend, einer ungesättigten, sehnsüchtigen, vereinsamten Jugend; und die Gefahr kam auf die Höhe, als ich eines Tages begriff, was für Speisen ich zuletzt doch mir zugeführt, und wozu mich der ungestüme Hunger und Durst meiner Seele verlockt hatte. Es war im Sommer 1876. Damals stieß ich, wüthend vor Ekel, alle Tische von mir, an denen ich bis dahin gesessen hatte, und ich gelobte mir, lieber zufällig und schlecht, lieber von Gras und Kraut und unterwegs, wie ein Thier, lieber gar nicht mehr zu leben als meine Mahlzeiten mit dem “Schauspieler-Volk” und den “höheren Kunstreitern des Geistes”—solche harte Ausdrücke gebrauchte ich damals—zu theilen:—denn ich schien mir unter lauter Cagliostros und unächte Menschen gerathen zu sein, und zürnte und tobte darüber, dort geliebt zu haben, wo ich hätte verachten sollen.
Nachdem ich endlich ruhiger geworden war, obschon durchaus nicht billiger und versöhnlicher, löste ich mich langsam und ohne Unart aus meiner bisherigen “Gesellschaft” und gieng auf die Wanderschaft,—krank, lange Jahre krank. Eine große, immer größere Loslösung—denn philosophische Menschen treiben das Einzelne gern ins Allgemeine—eine willkürliche “Entfremdung” war in jener Zeit meine einzige Labsal: ich prüfte Alles, woran sich bis dahin überhaupt mein Herz gehängt hatte, ich drehte die besten und verehrtesten Dinge und Menschen um und sah mir ihre Kehrseite an, ich that das Umgekehrte mit Allem, woran sich bisher die menschliche Kunst der Verleumdung und Verlästerung am besten geübt hat. Es war ein böses Spiel: ich war oft krank daran,—aber mein Entschluß blieb stehen. Ich “zerbrach mein verehrendes Herz” selber und sah mir noch seine gebrochenen Stücke und deren Kehrseiten an,—nicht ohne vielerlei neue Lust und Neugierde: denn man ist in dem Grade grausam als man der Liebe fähig ist. Endlich kam ich, Schritt vor Schritt, zu der letzten Forderung meiner innewendigen Härte: ich setzte mir die beste Miene zu meinem bösen Spiele auf, lachte allen “Pessimismus” bei mir aus und wehrte mich boshaft gegen jeden Schluß, an dem Krankheit und Einsamkeit einen Antheil haben könnten:—“vorwärts, sagte ich mir, eines Tags wirst du gesund sein, heute genügt es, sich gesund zu stellen! Der Wille zur Gesundheit ist schon das allerbeste Heilmittel!”
Darauf machte ich zum ersten Male meine Augen auf—und sah alsbald viele Dinge und viele Farben der Dinge, wie sie ängstliche Eckensteher und um sich besorgte Geister, die immer zu Hause geblieben sind, niemals zu sehen bekommen. Eine Art Vogel-Freiheit, eine Art Vogel-Umblick, eine Art Mischung von Neugierde und Verachtung, wie sie Jeder hat, der unbetheiligt ein ungeheures Vielerlei übersieht—das war endlich der erreichte neue Zustand, mit dem ich es lange aushielt. Ein “freier Geist” und nichts mehr: so fühlte, so nannte ich mich damals; und ich war wirklich das Gegenstück derer geworden, welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn,—mich giengen lauter Dinge an, die mich nicht mehr—“bekümmerten.”
Dies waren Jahre der Genesung: vielfältige Jahre voll bunter und schmerzlich-zauberhafter Begebnisse, von denen die Gesunden, die Vierschrötigen des Geistes eben so wenig Etwas begreifen und riechen dürften als die Krankhaften, die Verurtheilten, die zum Tode und nicht zum Leben Vorherbestimmten. Damals hatte ich “mich” noch nicht gefunden: aber ich war tapfer unterwegs nach “mir” und prüfte tausend Dinge und Menschen, an denen ich vorbei kam, ob sie nicht zu “mir” gehörten oder Etwas mindestens von “mir” wüßten. Welche Überraschungen gab es dabei! Welche Schauder! Welche kurze kleine Winkel des Glücks! Welches Ausruhen in der Sonne! Welche Zärtlichkeiten! Und immer wieder diese harte innere Stimme, welche befahl: “fort von hier! Vorwärts, Wanderer! Es sind noch viele Meere und Länder für dich übrig: wer weiß, wem Alles du noch begegnen mußt?”
Daß ich es also dankbar eingestehe: es sind mir damals, als ich die Regel “Mensch” zu studiren begann, seltsame und nicht ungefährliche Geister, mitunter sogar sehr freie Geister begegnet und über den Weg gelaufen,—und vor Allem Einer, und dieser immer wieder, kein Geringerer als der Gott Dionysos selber:—derselbe, dem ich einst, in viel jüngeren Jahren ein ehrfürchtiges und unschuldiges Opfer dargebracht hatte. Vielleicht finde ich noch einmal Muße und Stille genug, um meinen Freunden Alles, was ich von der Philosophie des Gottes Dionysos behalten habe, zu erzählen. mit halber Stimme, wie billig,—denn es handelt sich um vieles Heimliche, und manches Unheimliche. Daß aber Dionysos ein Philosoph ist und daß also auch Götter philosophiren, dünkt mich jedenfalls ein wichtiger und der sorgsamsten Mittheilung würdiger Umstand, welcher nichts gegen sich hat, außer daß er vielleicht nicht zur rechten Zeit bekannt wird: denn man glaubt heute ungern an Götter. Vielleicht, daß ich auch in der Freimüthigkeit meiner Erzählung etwas weiter gehen müßte, als den strengen Ohren meiner Freunde immer liebsam sein mag. Gewiß ist, daß der genannte Gott bei unseren Zwiegesprächen weiter gegangen ist und immer um einige Schritt mir voraus war: er liebt das Weitgehen! Ja, ich würde, falls es erlaubt wäre, ihm nach Menschenbrauch, schöne heuchlerische Prunk- und Tugend-Namen beizulegen, viel Rühmens von seinem Forscher- und Entdecker-Muthe, von seiner Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe zur Weisheit zu machen haben. Aber mit allem diesem schönen Plunder und Prunk weiß ein solcher Gott nichts anzufangen. “Behalte dies, würde er sagen, lieber für dich und deines Gleichen, und wer sonst es nöthig hat! Ich—habe keinen Grund, meine Blöße zu decken.”
Man sieht, es fehlt dieser Art von Gottheit und Philosophen etwas an Scham. So sagte er gleich bei unserer ersten Unterredung zu mir: “unter Umständen liebe ich den Menschen—und dabei spielte er auf Ariadne an—: es ist ein angenehmes erfinderisches Thier, das auf Erden nicht seines Gleichen hat, es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe und ihn stärker, böser und tiefer mache als er ist.”— Stärker, böser und tiefer? fragte ich erschreckt. “Ja, sagte er noch Ein Mal, stärker, böser und tiefer: auch schöner”—und dazu lächelte der Gott, wie als ob er eben eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe. Man sieht hier zugleich: es fehlt dieser Gottheit nicht nur an Scham—; und es giebt überhaupt gute Gründe dafür, zu muthmaaßen, daß in einigen Stücken die Götter insgesammt bei uns Menschen in die Schule gehen könnten. Wir sind menschlicher.
Und hiermit sind wir angelangt und am rechten Orte: nämlich am Ende. Denn man wird bereits sattsam begriffen haben, was es heißen soll: “Menschliches, Allzumenschliches.” Und warum dieses Buch “ein Buch für freie Geister” ist.
2.
Was an diesem Titel die Worte “Menschliches, Allzumenschliches” bedeuten sollen, habe ich schon zu verstehn gegeben—zum Mindesten für solche, die feine Ohren haben. Was aber in aller Welt dachte ich mir damals unter “freien Geistern,” nach denen ich den Angelhaken meines Buches auswarf? Es scheint, ich wünschte mir—Gesellschaft?