Oktober 1888 23 [1-14]
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Auch ein Gebot der Menschenliebe.— Es giebt Fälle, wo ein Kind ein Verbrechen sein würde: bei chronisch Kranken und Neurasthenikern dritten Grades. Was hat man da zu thun?— Solche zur Keuschheit ermuthigen, etwa mit Hülfe von Parsifal-Musik, mag immerhin versucht werden: Parsifal selbst, dieser typische Idiot, hatte nur zu viel Gründe, sich nicht fortzupflanzen. Der Übelstand ist, daß eine gewisse Unfähigkeit, sich zu “beherrschen” (—auf Reize, auf noch so kleine Geschlechtsreize nicht zu reagiren) gerade zu den regelmäßigsten Folgen der Gesammt-Erschöpfung gehört. Man würde sich verrechnen, wenn man sich zum Beispiel einen Leopardi als keusch vorstellte. Der Priester, der Moralist spielen da ein verlornes Spiel; besser thut man noch, in die Apotheke zu schicken. Zuletzt hat hier die Gesellschaft eine Pflicht zu erfüllen: es giebt wenige dergestalt dringliche und grundsätzliche Forderungen an sie. Die Gesellschaft, als Großmandatar des Lebens, hat jedes verfehlte Leben vor dem Leben selber zu verantworten,—sie hat es auch zu büßen: folglich soll sie es verhindern. Die Gesellschaft soll in zahlreichen Fällen der Zeugung vorbeugen: sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf Herkunft, Rang und Geist, die härtesten Zwangs-Maaßregeln, Freiheits-Entziehungen, unter Umständen Castrationen in Bereitschaft halten.— Das Bibel-Verbot “du sollst nicht tödten!” ist eine Naivetät im Vergleich zum Ernst des Lebens-Verbots an die décadents: “ihr sollt nicht zeugen!” ... Das Leben selbst erkennt keine Solidarität, kein “gleiches Recht” zwischen gesunden und entartenden Theilen eines Organismus an: letztere muß man ausschneiden—oder das Ganze geht zu Grunde.— Mitleiden mit den décadents, gleiche Rechte auch für die Mißrathenen—das wäre die tiefste Unmoralität, das wäre die Widernatur selbst als Moral!