Oktober 1888 23 [1-14]
23 [3]
Wir Hyperboreer.
1.
Wenn anders wir Philosophen sind, wir Hyperboreer, es scheint jedenfalls, daß wir es anders sind als man ehemals Philosoph war. Wir sind durchaus keine Moralisten ... Wir trauen unsern Ohren nicht, wenn wir sie reden hören, alle diese Ehemaligen. “Hier ist der Weg zum Glücke”—damit springt ein Jeder von ihnen auf uns los, mit einem Recept in der Hand und mit Salbung im hieratischen Maule. “Aber was kümmert uns das Glück?”—fragen wir ganz erstaunt. “Hier ist der Weg zum Glück—fahren sie fort, diese heiligen Schreiteufel: und dies da ist die Tugend, der neue Weg zum Glück!” ... Aber wir bitten Sie, meine Herrn! Was kümmert uns gar Ihre Tugend! Wozu geht Unsereins denn abseits, wird Philosoph, wird Rhinozeros, wird Höhlenbär, wird Gespenst? Ist es nicht, um die Tugend und das Glück los zu sein?— Wir sind von Natur viel zu glücklich, viel zu tugendhaft, um nicht eine kleine Versuchung darin zu finden, Philosophen zu werden: das heißt Immoralisten und Abenteurer ... Wir haben für das Labyrinth eine eigne Neugierde, wir bemühn uns darum, die Bekanntschaft des Herrn Minotaurus zu machen, von dem man Gefährliches erzählt: was liegt uns an Ihrem Weg hinauf, an Ihrem Strick, der hinaus führt? zu Glück und Tugend führt? zu Ihnen führt, ich fürchte es ... Sie wollen uns mit Ihrem Stricke retten?— Und wir, wir bitten Sie inständigst, hängen Sie sich daran auf! ...
2.
Zuletzt: was hilft es! Es bleibt kein andres Mittel, die Philosophie wieder zu Ehren zu bringen: man muß zuerst die Moralisten aufhängen. So lange diese von Glück und Tugend reden, überreden sie nur die alten Weiber zur Philosophie. Sehen Sie ihnen doch in’s Gesicht, allen den berühmten Weisen seit Jahrtausenden: lauter alte, lauter ältliche Weiber, lauter Mütter, mit Faust zu reden [Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Zweiter Theil. 6217. In: Goethe's sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Bd. 12. Stuttgart; Augsburg; Tübingen: J. G. Cotta, 1856:?.]. “Die Mütter! Mütter! ’s klingt so schauerlich.”— Wir machen aus ihr eine Gefahr, wir verändern ihren Begriff, wir lehren Philosophie als lebensgefährlichen Begriff: wie könnten wir ihr besser zu Hülfe kommen?— Ein Begriff wird der Menschheit immer so viel werth sein, als er ihr kostet. Wenn Niemand Bedenken trägt, für den Begriff “Gott,” “Vaterland,” “Freiheit” Hekatomben zu opfern, wenn die Geschichte der große Dampf um diese Art Opfer ist—, womit kann sich der Vorrang des Begriffs “Philosophie” vor solchen Popular-Werthen, wie “Gott,” “Vaterland,” “Freiheit,” beweisen, als dadurch, daß er mehr kostet—größere Hekatomben? ... Umwerthung aller Werthe: das wird kostspielig, ich verspreche es — —
3.
Dieser Anfang ist heiter genug: ich schicke ihm sofort meinen Ernst hinterdrein. Mit diesem Buche wird der Moral der Krieg erklärt,—und, in der That, die Moralisten insgesammt werden zuerst von mir abgethan. Man weiß bereits, welches Wort ich mir zu diesem Kampf zurecht gemacht habe, das Wort Immoralist; man kennt insgleichen meine Formel “Jenseits von Gut und Böse.” Ich habe diese starken Gegen-Begriffe nöthig, die Leuchtkraft dieser Gegen-Begriffe, um in jenen Abgrund von Leichtfertigkeit und Lüge hinabzuleuchten, der bisher Moral hieß. Die Jahrtausende, die Völker, die Ersten und die Letzten, die Philosophen und die alten Weiber—in diesem Punkte sind sie alle einander würdig. Der Mensch war bisher das moralische Wesen, eine Curiosität ohne Gleichen—und als moralisches Wesen absurder, verlogener, eitler, leichtfertiger, sich selber nachtheiliger als auch der größte Verächter des Menschen es sich träumen lassen möchte. Moral die bösartigste Form des Willens zur Lüge, die eigentliche Circe der Menschheit: das was sie verdorben hat. Es ist nicht der Irrthum als Irrthum, was mir bei diesem Anblick Entsetzen macht, nicht der jahrtausendelange Mangel an “gutem Willen,” an Zucht, an Anstand, an Muth im Geistigen: es ist der Mangel an Natur, es ist die schauderhafte Thatsächlichkeit, daß die Widernatur selbst als Moral mit den höchsten Ehren geehrt worden ist und als Gesetz über der Menschheit hängen blieb ... In diesem Maaße sich vergreifen,—nicht als Einzelner, nicht als Volk, sondern als Menschheit! Worauf weist das?— Daß man die untersten Instinkte des Lebens verachten lehrt, daß man in der tiefsten Nothwendigkeit zum Gedeihen des Lebens, in der Selbstsucht, das böse Princip sieht: daß man in dem typischen Ziel des Niedergangs, der Instinkt-Widersprüchlichkeit, im “Selbstlosen” im Verlust des Schwergewichts in der “Entpersönlichung” und “Nächstenliebe” grundsätzlich einen höheren Werth, was sage ich! den Werth an sich sieht! Wie?
Wäre die Menschheit selber in décadence? Wäre sie es immer gewesen? Was feststeht, ist daß ihr nur décadence-Werthe als oberste Werthe gelehrt worden sind. Die Entselbstungs-Moral ist die typische Niedergangs-Moral par excellence.— Hier bliebe eine Möglichkeit offen, daß nicht die Menschheit selber in décadence sei, sondern jene ihre Lehrer! ... Und in der That, das ist mein Satz: die Lehrer, die Führer der Menschheit waren décadents: daher die Umwerthung aller Werthe in’s Nihilistische (“Jenseitige” ...)
4.
Was dürfte dagegen ein Immoralist von sich verlangen? Was werde ich mir mit diesem Buche zur Aufgabe stellen?— Vielleicht auch die Menschheit zu “verbessern,” nur anders, nur umgekehrt: nämlich sie von der Moral zu erlösen, von den Moralisten zumal,—ihre gefährlichste Art von Unwissenheit ihr in’s Bewußtsein, ihr in’s Gewissen zu schieben ... Wiederherstellung des Menschheits-Egoismus! — —