Oktober 1888 23 [1-14]
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Zur Vernunft des Lebens.— Eine relative Keuschheit, eine grundsätzliche und kluge Vorsicht vor Eroticis selbst in Gedanken, kann zur großen Vernunft des Lebens auch bei reich ausgestatteten und ganzen Naturen gehören. Der Satz gilt in Sonderheit von den Künstlern, er gehört zu deren bester Lebens-Weisheit. Völlig unverdächtige Stimmen sind schon in diesem Sinne laut geworden: ich nenne Stendhal, Th. Gautier, auch Flaubert. Der Künstler ist vielleicht seiner Art nach mit Nothwendigkeit ein sinnlicher Mensch, erregbar überhaupt, zugänglich in jedem Sinne, dem Reize, der Suggestion des Reizes schon von Ferne her entgegenkommend. Trotzdem ist er im Durchschnitt, unter der Gewalt seiner Aufgabe, seines Willens zur Meisterschaft, thatsächlich ein mäßiger, oft sogar ein keuscher Mensch. Sein dominirender Instinkt will es so von ihm: er erlaubt ihm nicht, sich auf diese oder jene Weise auszugeben. Es ist ein und dieselbe Kraft, die man in der Kunst-Conception und die man im geschlechtlichen Actus ausgiebt: es giebt nur Eine Art Kraft. Hier zu unterliegen, hier sich zu verschwenden ist für einen Künstler verrätherisch: es verräth den Mangel an Instinkt, an Wille überhaupt, es kann ein Zeichen von décadence sein,—es entwerthet jedenfalls bis zu einem unausrechenbaren Grade seine Kunst. Ich nehme den unangenehmsten Fall, den Fall Wagner.— Wagner, im Banne jener unglaubwürdig krankhaften Sexualität, die der Fluch seines Lebens war, wußte nur zu gut, was ein Künstler damit einbüßt, daß er vor sich die Freiheit, die Achtung verliert. Er ist verurtheilt, Schauspieler zu sein. Seine Kunst selbst wird ihm zum beständigen Fluchtversuch, zum Mittel des Sich-Vergessens, des Sich-Betäubens,—es verändert, es bestimmt zuletzt den Charakter seiner Kunst. Ein solcher “Unfreier” hat eine Haschisch-Welt nöthig, fremde, schwere, einhüllende Dünste, alle Art Exotismus und Symbolismus des Ideals, nur um seine Realität einmal loszusein,—er hat Wagnersche Musik nöthig ... Eine gewisse Katholicität des Ideals vor Allem ist bei einem Künstler beinahe der Beweis von Selbstverachtung, von “Sumpf”: der Fall Baudelaire’s in Frankreich, der Fall Edgar Allan Poe’s in Amerika, der Fall Wagner’s in Deutschland.— Habe ich noch zu sagen, daß Wagner seiner Sinnlichkeit auch seinen Erfolg verdankt? daß seine Musik die untersten Instinkte zu sich, zu Wagner überredet? daß jener heilige Begriffs-Dunst von Ideal, von Drei-Achtel-Katholicismus eine Kunst der Verführung mehr ist? (—er erlaubt, unwissend, unschuldig, christlich “den Zauber” auf sich wirken zu lassen ...) Wer wagte das Wort, das eigentliche Wort für die ardeurs der Tristan-Musik?— Ich ziehe Handschuhe an, wenn ich die Partitur des Tristan lese ... Die immer mehr um sich greifende Wagnerei ist eine leichtere Sinnlichkeits-Epidemie, die “es nicht weiß”; gegen Wagnersche Musik halte ich jede Vorsicht für geboten. —