Ende 1876 - Sommer 1877 23 [1-100]
23 [12]
Es war ein sehr glücklicher Fund Schopenhauers als er vorn “Willen zum Leben” sprach: wir wollen diesen Ausdruck uns nicht wieder nehmen lassen und seinem Urheber dafür im Namen der deutschen Sprache dankbar sein. Aber das soll uns nicht hindern einzusehen, daß der Begriff Wille zum Leben vor der Wissenschaft sich noch nicht das Bürgerrecht erobert hat, ebenso wenig als die Begriffe “Seele” “Gott” Lebenskraft usw. Auch Mainländers Reduktion dieses Begriffs auf viele individuelle “Willen zum Leben” bringt uns nicht weiter,—man erhält dadurch statt einer universalen Lebenskraft (welche zugleich als außer, über und in den Dingen gedacht werden soll!) individuale Lebenskräfte, gegen welche dasselbe einzuwenden ist wie gegen jene universale. Denn bevor der Mensch ist, ist auch sein Individualwille noch nicht: oder was sollte dieser sein? Im Leben selber aber sich äußernd—ja ist denn das Wille zum Leben? Doch mindestens Wille im Leben zu bleiben, also, um den bekannteren Ausdruck zu wählen, Erhaltungstrieb. Ist es wahr, daß, wenn der Mensch in sein Inneres blickt, er sich als Erhaltungstrieb wahrnimmt? Vielmehr nimmt er nur wahr, daß er immer fühlt, genauer daß er irgend an welchem Organe irgend welche, gewöhnlich ganz unbedeutende Lust- oder Unlustempfindungen hat: die Bewegung des Blutes des Magens der Gedärme drückt irgend wie auf die Nerven, er ist immer fühlend und immer wechselt dies Gefühl. Der Traum verräth diese innere fortwährende Wandlung des Gefühls und deutet sie phantastisch aus. Die Stellungen, die die Glieder im Schlafe einnehmen, machen eine Umstellung der Muskeln nöthig und beeinflussen die Nerven und diese wieder das Gehirn. Unser Sehnerv unser Ohr unser Getast ist immer irgend wie erregt. Aber mit dem Erhaltungstrieb hat diese Thatsache einer fortwährenden Erregtheit und Bemerkbarkeit des Gefühls nichts gemein. Der Erhaltungstrieb oder die Liebe zum Leben ist entweder etwas ganz Bewußtes oder nur ein unklares irreführendes Wort für etwas anderes: daß wir der Unlust entgehen wollen, auf alle Weise, und dagegen nach Lust streben. Diese universale Thatsache alles Beseelten ist aber jedenfalls keine erste ursprüngliche Thatsache, wie es Schopenhauer vom Willen zum Leben annimmt:—Unlust fliehen, Lust suchen setzt die Existenz der Erfahrung und diese wieder den Intellekt voraus.— Die Stärke der Wollust beweist nicht den Willen zum Leben, sondern den Willen zur Lust. Die große Angst vor dem Tode, mit der Schopenhauer ebenfalls zu Gunsten seiner Annahme vom Willen argumentirt, ist in langem Zeitraum großgezüchtet durch einzelne Religionen, welche den Tod als entscheidende Stunde ansehen; sie ist hier und da so groß geworden. Falls sie aber unabhängig davon beobachtet wird, so ist sie nicht mehr als Angst vor dem Sterben d. h. dem ungeprobten und vielleicht zu groß vorgestellten Schmerz dabei, dann vor den Verlusten, welche durch das Sterben eintreten. Es ist nicht wahr daß man das Dasein um jeden Preis will, z. B. nicht als Thiere, auf welche Schopenhauer so gern hinweist um die ungeheure Macht des allgemeinen Willens zum Leben festzustellen.