Ende 1876 - Sommer 1877 23 [1-100]
23 [96]
Der Fehler der Moralisten besteht darin, daß sie um das Moralische zu erklären egoistisch und unegoistisch wie unmoralisch und moralisch einander gegenüber stellen, d.h. daß sie das letzte Ziel der moralischen Entwicklung, unsere jetzige Empfindung als Ausgangspunkt nehmen. Aber diese letzte Phase der Entwicklung ist durch zahlreiche Stufen, durch Einflüsse von Philosophie und Metaphysik, von Christenthum bedingt und durchaus nicht zu benutzen, um den Ursprung des Moralischen zu erklären. Überdies ist möglich, daß unegoistisches Handeln zwar ein uns geläufiger Begriff, aber keine wirkliche Thatsache, sondern nur eine scheinbare ist; die Ableitung des Mitleidens z. B. führt vielleicht auf den Egoismus zurück, ebenso wie es wahrscheinlich keine Thaten der Bosheit an sich, des Schädigens ohne persönlichen Grund usw. giebt. Das Reich des Moralischen ist vor allem das Reich des Sittlichen gewesen, man nannte aber den “guten Menschen” durchaus nicht zu allen Zeiten den, welcher die Sitte unegoistischer Handlungen, das Mitleiden und dergleichen hatte, sondern vielmehr den, welcher überhaupt den Sitten folgte. Ihm stand der böse Mensch, der ohne Sitte (der unsittliche) gegenüber.