Ende 1876 - Sommer 1877 23 [1-100]
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Unterscheidet man Stufen der Moralität, so würde ich als erste nennen: Unterordnung unter das Herkommen, Ehrfurcht und Pietät gegen das Herkommen und seine Träger (die Alten) als zweite Stufe. Gebundensein des Intellekts, Beschränkung seines Herumgreifens und Versuchens, Steigerung des Gefühls innerhalb des abgegrenzten Bereichs erlaubter Vorstellungen.— Dagegen die Forderung des unegoistischen unpersönlichen Handelns, worin man gewöhnlich den Ursprung der Moralität sieht, gehört den pessimistischen Religionen an, insofern diese von der Verwerflichkeit des ego, der Person ausgehen, also die metaphysische Bedeutung des “Radikal-Bösen” vorher in den Menschen gelegt haben müssen. Von der pessimistischen Religion her hat Kant sowohl das Radikal-Böse als den Glauben daß das Unegoistische das Kennzeichen des Moralischen sei. Nun existirt dies aber nur, wie Schopenhauer richtig sah, im Nachgeben gegen bestimmte Empfindungen, z. B. des Mitleidens Wohlwollens. Empfindungen kann man aber nicht fordern, anbefehlen. Die Moral hat aber immer gefordert, sie wird somit “mitleidig und wohlwollend sein” (unegoistisch sein) nicht als entscheidende Kennzeichen des “moralischen Menschen” gelten lassen: wie man ja thatsächlich oft von “unmoralischen Menschen” spricht, welche aber sehr gutmüthig und mitleidig sind.