Ende 1876 - Sommer 1877 23 [1-100]
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Wenn Schopenhauer dem Willen das Primat zuertheilt und den Intellekt hinzukommen läßt, so ist doch das ganze Gemüth, so wie es uns jetzt bekannt ist, nicht mehr zur Demonstration zu benutzen. Denn es ist durch und durch intellektual geworden (so wie unsere Tonempfindung in der Musik intellektual wurde). Ich meine: Lust und Schmerz und Begehren können wir gar nicht vom Intellekt mehr losgetrennt denken. Die Höhe Mannichfaltigkeit Zartheit des Gemüths ist durch zahllose Gedankenvorgänge großgezüchtet worden; wie die Poesie sich zur jetzigen Musik verhält, als die Lehrerin aller Symbolik, so der Gedanke zum jetzigen Gemüth. Diese Gedanken sind vielfache Irrthümer gewesen; z. B. die Stimmung der Frömmigkeit ruht ganz auf dem Irrthume. Lust und Schmerz ist wie eine Kunst ausgebildet worden, genau durch dieselben Mittel wie eine Kunst. Die eigentlichen Motive der Handlungen verhalten sich jetzt so wie die Melodien der jetzigen Musik; es ist gar nicht mehr zu sagen, wo Melodie, wo Begleitung Harmonie ist; so ist bei den Motiven der Handlungen alles künstlich gewebt, mehrere Motive bewegen sich neben einander und geben sich gegenseitig Harmonie Farbe Ausdruck Stimmung. Bei gewissen Stimmungen meinen wir wohl den Willen abgesondert vom Intellekt zu haben, es ist eine Täuschung; sie sind ein Resultat. Jede Regung ist intellektual geworden; was einer z. B. bei der Liebe empfindet, ist das Ergebniß alles Nachdenkens darüber, aller je damit verbundenen Metaphysik, aller verwandten miterklingenden Nachbarstimmungen.