Ende 1876 - Sommer 1877 23 [1-100]
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Die Lehrer ganzer Klassen setzen einen falschen Ehrgeiz hinein, ihre Schüler individuell verschieden zu behandeln. Nun ist aber im höchsten Maaße wahrscheinlich, daß der Lehrer, bei seiner geringen und einseitigen Beziehung zu den Schülern, sie nicht genau kennt und einige grobe Fehler in der Beurtheilung des einen oder andren Charakters macht (welche zudem bei jungen Leuten noch biegsam sind und nicht als vollendete Thatsache behandelt werden sollten). Der Nachtheil, welchen die Erkenntniß der Klasse, daß einige Schüler grundsätzlich immer irrthümlich behandelt werden, mit sich bringt, wiegt alle etwaigen Vortheile einer individualisirenden Erziehung auf, ja überwiegt bei weitem. Im Allgemeinen sind alle Lehrer-Urtheile über ein Individuum falsch und voreilig: und kein Beweis von wissenschaftlicher Sorgfalt und Behutsamkeit. Man versuche es nur immer mit einer Gleichsetzung und Gleichschätzung aller Schüler und nehme das Niveau ziemlich hoch, ja man behandle alles Censurengeben mit ersichtlicher Geringschätzung und beschränke sich darauf, den Gegenstand des Unterrichts interessant zu machen, so sehr daß der Lehrer es sich, vor der Klasse, anrechnet, wenn ein Schüler sich auffällig uninteressirt zeigt—: es ist ein bewährtes Recept, und läßt überdies das Gewissen des Lehrers ruhiger.— Es versteht sich übrigens von selbst, daß Klassenerziehung eben nur ein Nothbehelf ist, wenn der einzelne Mensch durchaus nicht von einem einzelnen Lehrer erzogen werden kann und somit der individuelle Charakter und die Begabung ihren eigenen Wegen überlassen werden müssen: was freilich gefahrvoll ist. Aber ist der einzelne Erzieher nicht ebenfalls eine Gefahr? —