Ende 1876 - Sommer 1877 23 [1-100]
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Auch wenn man Martern und den Tod für seinen Glauben erduldet, beweist man nichts für die Wahrheit, sondern nur für die Stärke des Glaubens an das, was man für Wahrheit hält. (Das Christenthum freilich geht von dem unstatthaften Einfalle aus: “was stark geglaubt wird, ist wahr.” “Was stark geglaubt wird, macht selig, muthig, usw.”) Das Pathos der “Wahrheit” ist an sich nicht förderlich für dieselbe, insofern es dem erneuten Prüfen und Forschen entgegenwirkt. Es ist eine Art Blindheit mit ihm verbunden, ja man wird, mit diesem Pathos, zum Narren: wie dies Winkler sagt. [Vgl. Paul Winkler, Zwey Tausend Gutte Gedancken zusammen gebracht von Dem Geübten. Görlitz, 1685. Nr. 1034: "Der Mensch ist so lange Weise / als er die Weißheit sucht / wenn er aber meinet / er habe sie gefunden / so wird er zum Narren."] Man muß von Zeit zu Zeit skeptische Perioden durchleben, wenn anders man ein Recht haben will sich eine wissenschaftliche Persönlichkeit zu nennen. Schopenhauer hat seine Position vielfach mit Fluchen und Verwünschungen und fast überall mit Pathos verschanzt; ohne diese Mittel würde seine Philosophie vielleicht weniger bekannt geworden sein (z. B. wenn er die eigentliche Perversität der Gesinnung es nennt, “an keine Metaphysik zu glauben”). [Vgl. Arthur Schopenhauer, Sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. Bd. 6: Parerga und Paralipomena: Kleine philosophische Schriften, Bd. 2. Leipzig: Brockhaus, 1874:215.]