Juni-Juli 1885 38 [1-22]
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Der Gedanke ist in der Gestalt, in welcher er kommt, ein vieldeutiges Zeichen, welches der Auslegung, genauer, einer willkürlichen Einengung und Begränzung bedarf, bis er endlich eindeutig wird. Er taucht in mir auf—woher? wodurch? das weiß ich nicht. Er kommt, unabhängig von meinem Willen, gewöhnlich umringt und verdunkelt durch ein Gedräng von Gefühlen, Begehrungen, Abneigungen, auch von andern Gedanken, oft genug von einem “Wollen” oder “Fühlen” kaum zu unterscheiden. Man zieht ihn aus diesem Gedränge, reinigt ihn, stellt ihn auf seine Füße, man sieht, wie er dasteht, wie er geht, Alles in einem erstaunlichen presto und doch ganz ohne das Gefühl der Eile: wer das Alles thut,—ich weiß es nicht und bin sicherlich mehr Zuschauer dabei als Urheber dieses Vorgangs. Man sitzt dann über ihn zu Gericht, man fragt: was bedeutet er? “was darf er bedeuten? hat er Recht oder Unrecht?”—man ruft andere Gedanken zu Hülfe, man vergleicht ihn. Denken erweist sich dergestalt beinahe als eine Art Übung und Akt der Gerechtigkeit, bei dem es einen Richter, eine Gegen-Partei, auch sogar ein Zeugenverhör giebt, dem ich ein wenig zuhören darf—freilich nur ein wenig: das Meiste, so scheint es, entgeht mir.— Daß jeder Gedanke zuerst vieldeutig und schwimmend kommt und an sich nur als Anlaß zum Versuch der Interpretation oder zur willkürlichen Festsetzung, daß bei allem Denken eine Vielheit von Personen betheiligt scheint—: dies ist nicht gar zu leicht zu beobachten, wir sind im Grunde umgekehrt geschult, nämlich beim Denken nicht an’s Denken zu denken. Der Ursprung des Gedankens bleibt verborgen; die Wahrscheinlichkeit dafür ist groß, daß er nur das Symptom eines viel umfänglicheren Zustandes ist; darin daß gerade er kommt und kein anderer, daß er gerade mit dieser größeren oder minderen Helligkeit kommt, mitunter sicher und befehlerisch, mitunter schwach und einer Stütze bedürftig, im Ganzen immer aufregend, fragend—für das Bewußtsein wirkt nämlich jeder Gedanke wie ein Stimulans—: in dem allen drückt sich irgend etwas von unserem Gesammtzustande in Zeichen aus.— Ebenso steht es mit jedem Gefühle, es bedeutet nicht an sich etwas: es wird, wenn es kommt, von uns erst interpretirt und oft wie seltsam interpretirt! Man denke doch an die uns fast “unbewußte” Noth der Eingeweide, an die Blutdruck-Spannungen im Unterleibe, an die krankhaften Zustände des nervus sympathicus—: und wie Vieles giebt es, wovon wir kaum durch das sensorium commune einen Schimmer von Bewußtsein haben!— Nur der anatomisch Unterrichtete räth bei solchen ungewissen Unlust-Gefühlen auf die rechte Gattung und Gegend der Ursachen; alle Anderen aber, im Ganzen also fast alle Menschen, so lange es Menschen giebt, suchen bei solcher Art von Schmerzen keine physische, sondern eine psychische und moralische Erklärung und schieben den thatsächlichen Verstimmungen des Leibes eine falsche Begründung unter, indem sie im Umkreise ihrer unangenehmen Erfahrungen und Befürchtungen einen Grund herausholen, sich dermaßen schlecht zu befinden. Auf der Folter bekennt sich fast Jedermann schuldig; bei dem Schmerz, dessen physische Ursache man nicht weiß, fragt sich der Gefolterte so lange und so inquisitorisch selbst, bis er sich oder Andere schuldig findet:—wie es zum Beispiel der Puritaner that, welcher den einer unvernünftigen Lebensweise anhaftenden Spleen sich gewohnheitsmäßig moralisch auslegte, nämlich als Biß seines eigenen Gewissens. —