Juni-Juli 1885 38 [1-22]
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Man ist jetzt überall bemüht, von dem eigentlichen großen Einflusse, den Kant in Europa ausgeübt hat, den Blick abzuziehen—und namentlich über den Werth, welchen er sich selber zugestand, klüglich hinwegzuschlüpfen. Kant war vor Allem und zuerst stolz auf seine Kategorien-Tafel und sagte, mit dieser Tafel in den Händen: das ist “das Schwerste, was jemals zum Behufe der Metaphysik unternommen werden konnte” (man verstehe doch dies “werden konnte”!)—er war stolz darauf, im Menschen ein neues Vermögen, das Vermögen zu synthetischen Urtheilen a priori entdeckt zu haben. Es geht uns hier nichts an, wie sehr er sich hierin selber betrog: aber die deutsche Philosophie, so wie sie im ganzen Europa seit hundert Jahren bewundert wird und gewirkt hat, hängt an diesem Stolze und dem Wetteifer der Jüngeren womöglich etwas noch Stolzeres zu entdecken—und jedenfalls neue Vermögen! Es machte den eigentlichen Ruhm der deutschen Philosophie bisher aus, daß man durch sie an eine Art “intuitiver—und instinktiver Erfassung der Wahrheit” glauben lernte; und auch Schopenhauer, so sehr er Fichten, Hegeln und Schelling zürnte, war im Grunde auf derselben Bahn, als er an einem alten bekannten Vermögen, dem Willen ein neues Vermögen entdeckte—nämlich selber “das Ding an sich” zu sein. Das hieß in der That kräftig zugreifen und seine Finger nicht schonen, mitten hinein ins “Wesen”! Schlimm genug, daß dieses Wesen sich dabei unangenehm erwies, und, infolge verbrannter Finger, durchaus der Pessimismus und die Verneinung des Willens zum Leben nöthig erschien! Aber dieses Schicksal Schopenhauers ist ein Zwischenfall, der für die gesammte Bedeutung der deutschen Philosophie, für ihren höheren “Effekt,” ohne Einfluß blieb: in der Hauptsache nämlich bedeutete sie in ganz Europa die frohlockende Reaktion gegen den Rationalismus des Descartes und gegen die Skepsis der Engländer, zu Gunsten des “Intuitiven,” “Instinktiven” und alles “Guten, Wahren und Schönen.” Man meinte, der Weg zur Erkenntniß sei nunmehr abgekürzt, man könne unmittelbar den “Dingen” zu Leibe gehen, man hoffte “Arbeit zu sparen”: und alles Glück, welches edle Müßiggänger, Tugendhafte, Träumerische, Mystiker, Künstler, Dreiviertels-Christen, politische Dunkelmänner und metaphysische Begriffs-Spinnen zu empfinden fähig sind, wurde den Deutschen zur Ehre angerechnet. Der gute Ruf der Deutschen war auf einmal in Europa hergestellt: durch ihre Philosophen!— Ich hoffe, man weiß es doch noch, daß die Deutschen in Europa einen schlechten Ruf hatten? Daß man bei ihnen an servile und erbärmliche Eigenschaften, an die Unfähigkeit zum “Charakter,” an die berühmte Bedienten-Seele glaubte? Mit Einem Male aber lernte man sagen: “die Deutschen sind tief, die Deutschen sind tugendhaft,—man lese nur ihre Philosophen”! Im letzten Grunde war es die verhaltene und lange aufgestaute Frömmigkeit der Deutschen, welche in ihrer Philosophie endlich explodirte, unklar und ungewiß freilich, wie alles Deutsche, nämlich bald in pantheistischen Dämpfen, wie bei Hegel und Schelling, als Gnosis, bald mystisch und weltverneinend, wie bei Schopenhauer: in der Hauptsache aber eine christliche Frömmigkeit, und nicht eine heidnische,—für welche Goethe und vor ihm schon Spinoza so viel guten Willen gezeigt haben.