Juni-Juli 1885 38 [1-22]
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Der Wille.— In jedem Wollen ist eine Mehrheit von Gefühlen vereinigt: das Gefühl des Zustandes, von dem weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesem “weg und hin” selber, das Gefühl der Dauer dabei, zuletzt noch ein begleitendes Muskel-Gefühl, welches, auch ohne daß wir Arme und Beine in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit sobald wir “wollen” sein Spiel beginnt. Wie also das Gefühl und zwar vielerlei Fühlen als Ingrediens des Willens anzuerkennen ist, so zweitens auch noch das Denken: in jedem Willensakte commandirt ein Gedanke,—und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem Wollen selber abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wollen übrig bliebe. Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affect: und zwar jener Affect des Commandos. Das was Freiheit des Willens genannt wird, ist wesentlich das Überlegenheits-Gefühl in Hinsicht auf den der gehorchen muß: “ich bin frei, er muß gehorchen”—dieß Bewußtsein steckt in jedem Willen, und eben jene Spannung der Aufmerksamkeit, jener klare Blick, der ausschließlich Eins ins Auge faßt, jene ausschließliche Werthschätzung “jetzt thut dieß Noth und nichts anderes,” jene innere Gewißheit darüber, daß gehorcht wird, wie dieß Alles zum Zustande des Befehlenden gehört. Ein Mensch der will—, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht, oder von dem er glaubt daß es gehorchen wird. Nun aber beachte man, was das Wesentlichste am “Willen” ist, an diesem so complicirten Dinge, für welches das Volk Ein Wort hat. Insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden und Gehorchenden sind und als Gehorchende die Gefühle des Widerstehens, Drängens, Drückens, Bewegens kennen, welche sofort nach dem Akte des Willens zu beginnen pflegen; insofern wir aber die Gewohnheit haben mit dem synthetischen Begriff “Ich” uns über diese Zweiheit hinweg zu setzen, hinweg zu täuschen, hat sich an das Wollen noch eine ganze Kette von irrthümlichen Schlüssen und folglich von falschen Werthschätzungen des Willens selber angehängt:—so daß der Wollende in gutem Glauben glaubt, sein Wille selber sei zur gesamten Aktion das eigentliche und ausreichende mobile. Und weil in den allermeisten Fällen nur gewollt worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte, so hat sich der Anschein in das Gefühl übersetzt, als ob es da eine Nothwendigkeit der Wirkung gäbe: genug, der Wollende glaubt, mit einem ziemlichen Grade von Sicherheit, daß der Wille und die Aktion irgendwie Eins seien—er rechnet das Gelingen der Ausführung des Willens noch dem Willen selber zu und genießt dabei einen Zuwachs jenes Machtgefühls, welches alles Befehlen mit sich bringt. “Freiheit des Willens”: das ist das Wort für jenen sehr gemischten Zustand des Wollenden, der befiehlt und zugleich als Ausführender den Triumph der Überlegenheit über Widerstände genießt, der aber urtheilt, der Wille selber überwinde die Widerstände:—er nimmt die Lustgefühle des ausführenden erfolgreichen Werkzeugs—des dienstbaren Willens und Unterwillens—zu seinem Lustgefühle als Befehlender hinzu.— Dieses verflochtene Nest von Gefühlen, Zuständen und falschen Annahmen, welches vom Volk mit Einem Worte und wie Eine Sache bezeichnet wird, weil es plötzlich und auf “Ein Mal” da ist und zu den allerhäufigsten, folglich “bekanntesten” Erlebnissen gehört: der Wille, so wie ich ihn hier beschrieben habe—sollte man es glauben, daß er noch niemals beschrieben worden ist? Daß das plumpe Vorurtheil des Volks bisher noch in jeder Philosophie ungeprüft zu Recht bestanden hat? Daß darüber, was “wollen” sei, es unter den Philosophen keine Verschiedenheit der Meinung gab, weil alle glaubten, hier gerade habe man eine unmittelbare Gewißheit, eine Grund-Thatsache, hier sei Meinen gar nicht am Platze? Und daß alle Logiker noch die Dreieinigkeit “Denken, Fühlen, Wollen” lehren, wie als ob “Wollen” kein Fühlen und Denken enthalte?— Nach alledem erscheint Schopenhauers großer Fehlgriff, als er den Willen wie die bekannteste Sache von der Welt, ja wie die eigentlich und allein bekannte Sache nahm, weniger toll und willkürlich: er hat ein ungeheures Vorurtheil aller bisherigen Philosophen, ein Volks-Vorurtheil, nur übernommen und, wie es im Allgemeinen Philosophen thun, übertrieben. —