Juni-Juli 1885 38 [1-22]
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Der Mensch ist ein Formen- und Rhythmen-bildendes Geschöpf; er ist in nichts besser geübt und es scheint daß er an nichts mehr Lust hat als am Erfinden von Gestalten. Man beobachte nur, womit sich unser Auge sofort beschäftigt sobald es nichts mehr zu sehen bekommt: es schafft sich Etwas zu sehen. Muthmaßlich thut im gleichen Falle unser Gehör nichts anderes: es übt sich. Ohne die Verwandlung der Welt in Gestalten und Rhythmen gäbe es für uns nichts “Gleiches,” also auch nichts Wiederkehrendes, also auch keine Möglichkeit der Erfahrung und Aneignung, der Ernährung. In allem Wahrnehmen, das heißt dem ursprünglichsten Aneignen, ist das wesentliche Geschehen ein Handeln, strenger noch: ein Formen-Aufzwingen:—von “Eindrücken” reden nur die Oberflächlichen. Der Mensch lernt seine Kraft dabei als eine widerstrebende und mehr noch als eine bestimmende Kraft kennen—abweisend, auswählend, zurechtformend, in seine Schemata einreihend. Es ist etwas Aktives daran, daß wir einen Reiz überhaupt annehmen und daß wir ihn als solchen Reiz annehmen. Dieser Aktivität ist es zu eigen, nicht nur Formen, Rhythmen und Aufeinanderfolgen der Formen zu setzen, sondern auch das geschaffene Gebilde in Bezug auf Einverleibung oder Abweisung abzuschätzen. So entsteht unsre Welt, unsre ganze Welt: und dieser ganzen uns allein zugehörigen, von uns erst geschaffenen Welt entspricht keine vermeinte “eigentliche Wirklichkeit,” kein “An sich der Dinge”: sondern sie selber ist unsre einzige Wirklichkeit, und “Erkenntniß” erweist sich, dergestalt betrachtet, nur als ein Mittel der Ernährung. Aber wir sind schwer zu ernährende Wesen und haben überall Feinde und gleichsam Unverdauliches—: darüber ist die menschliche Erkenntniß fein geworden und zuletzt so stolz noch auf ihre Feinheit, daß sie es nicht hören mag, sie sei kein Ziel, sondern ein Mittel oder gar ein Werkzeug des Magens,—wenn nicht selber eine Art von Magen! — —