Juni-Juli 1885 38 [1-22]
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Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffinirtesten Cultur Europas, aber man muß dies “Frankreich des Geschmacks” zu finden wissen. Wer zu ihm gehört, hält sich gut verborgen: im Vordergrunde wälzt sich ein verdummtes und vergröbertes Frankreich, das neuerdings, bei dem Leichenbegängnisse V. H’s eine wahre Orgie des Ungeschmacks gefeiert hat—es mag eine kleine Zahl sein, dazu Menschen die nicht auf den kräftigsten Beinen stehen, zum Theil Fatalisten, zum Theil Verzärtelte (solche die Gründe haben sich zu verbergen)—sie insgesammt erkennen als ihre Vorfahren und Meister etwa folgende höhere Geister an. Vorerst Stendhal, das letzte große Ereigniß des französischen Geistes, der mit einem Nap tempo durch sein unentdecktes Europa marschirt ist und zuletzt sich allein fand—schauerlich allein: denn es hat zweier Geschlechter bedurft, um ihm nahe zu kommen. Jetzt wie gesagt commandirt er, ein Befehlshaber für die Ausgewähltesten; und wer mit feinen und verwegenen Sinnen begabt ist, neugierig bis zum Cynismus, Logiker beinahe aus Ekel, Räthselrather und Freund der Sphinx gleich jedem geborenen Europäer, der wird ihm nachgehen müssen. Möge er ihm auch dahin folgen, voller Scham vor den Heimlichkeiten, welche die große Leidenschaft hat, stehen zu bleiben! Diese Noblesse des Schweigen-Könnens, Stehen-bleiben-Könnens hat er zum Beispiel vor Michelet und sonderlich vor den deutschen Gelehrten voraus.— Sein Schüler ist Mérimée, ein vornehmer zurückgezogener Artist und Verächter jener schwammichten Gefühle, welche ein demokratisches Zeitalter als seine “edelsten Gefühle” preist, streng gegen sich und voll der härtesten Ansprüche an seine künstlerische Logik, beständig bereit, kleine Schönheiten und Reize einem starken Willen zur Nothwendigkeit zu opfern:—eine ächte, wenngleich nicht reiche Seele in einer unächten und schmutzigen Umgebung und Pessimist genug, um die Komödie mitspielen zu können, ohne sich zu erbrechen.— Ein anderer Schüler Stendhals ist Taine, jetzt der erste lebende Historiker Europas, ein entschlossener und noch in seiner Verzweiflung tapferer Mensch, welchem der Muth so wenig als die Willenskraft unter dem fatalistischen Druck des Wissens in Stücke gegangen ist, ein Denker, welchen weder Condillac in Hinsicht auf Tiefe noch Hegel in Hinsicht auf Klarheit beeinträchtigt haben, einer vielmehr, der zu lernen verstand und für lange Zeit verstehen wird zu lehren:—die Franzosen der nächsten Generation haben in ihm ihren geistigen Zuchtmeister. Er vornehmlich ist es, der den Einfluß Renans und Sainte-Beuves zurückdrängt, welche beide ungewiß und skeptisch bis auf den letzten Grund ihres Herzens sind. Renan, eine Art katholischer Schleiermacher, süßlich, bonbon, Landschaften und Religionen anempfindend: Sainte-Beuve, ein abgebrannter Dichter, der sich auf die Seelen-Anschnüffelei verlegt und gar zu gern verbergen möchte, daß er weder im Willen, noch in der Philosophie irgend einen Halt hat, ja sogar, was nach Beidem nicht Wunder nimmt, eines eigentlichen festen Geschmacks in artibus et litteris ermangelt. Zuletzt merkt man ihm die Absicht an, noch aus diesem Mangel eine Art Princip und Methode von kritischer Neutralität zu bilden: aber der Verdruß verräth sich zu oft, einmal darüber, daß er in der That für gewisse Bücher und Menschen wirklich einigemale nicht neutral, nämlich begeistert gewesen ist—er möchte diese schrecklichen “petits faits” aus seinem Leben wegstreichen, weglügen—sodann aber über das viel unangenehmere grand fait, daß alle großen französischen Menschenkenner auch noch ihren eigenen Willen und Charakter im Leibe hatten, von Montaigne, Charron, La Rochefoucauld bis auf Chamfort und Stendhal:—denen allen gegenüber ist Sainte-Beuve nicht ohne Neid und jedenfalls ohne Vorliebe und Vorverständniß.— Viel wohlthätiger, einseitiger, tüchtiger in jedem Sinne ist der Einfluß Flauberts: mit seinem Übergewicht von Charakter, der sogar die Einsamkeit und den Mißerfolg vertrug,—etwas außerordentliches unter Franzosen—, regiert er augenblicklich in dem Reiche der Roman-Asthetik und des Stils—er hat das klingende und bunte Französisch auf die Höhe gebracht. Zwar fehlt auch ihm wie Renan und Sainte-Beuve die philosophische Zucht, insgleichen eine eigentliche Kenntniß der wissenschaftlichen Prozeduren: aber ein tiefes Bedürfniß zur Analyse und sogar zur Gelehrsamkeit hat sich zusammen mit einem instinktiven Pessimismus bei ihm Bahn gebrochen, wunderlich vielleicht, aber kräftig genug um den gegenwärtigen Romanschriftstellern Frankreichs damit ein Vorbild zu geben. In der That geht auf Flaubert der neue Ehrgeiz der jüngsten Schule zurück, sich in wissenschaftlichen und pessimistischen Attitüden vorzuführen.—Was von Dichtern jetzt in Frankreich blüht, steht unter Heinrich Heines und Baudelaires Einfluß, vielleicht Leconte de Lisle ausgenommen: denn in gleicher Weise wie Schopenhauer jetzt schon mehr in Frankreich geliebt und gelesen wird als in Deutschland, ist auch der Cultus Heinrich Heines nach Paris übergesiedelt. Was den pessimistischen Baudelaire betrifft, so gehört er zu jenen kaum glaublichen Amphibien, welche ebensosehr deutsch als pariserisch sind; seine Dichtung hat etwas von dem, was man in Deutschland Gemüth oder “unendliche Melodie” und mitunter auch “Katzenjammer” nennt. Im Übrigen war Baudelaire der Mensch eines vielleicht verdorbenen, aber sehr bestimmten und scharfen, seiner selbst gewissen Geschmacks: damit tyrannisirt er die Ungewissen von Heute. Wenn er seiner Zeit der erste Prophet und Fürsprecher Delacroix’ war: vielleicht, daß er heute der erste “Wagnerianer” von Paris sein würde. Es ist viel Wagner in Baudelaire.