Juni-Juli 1885 38 [1-22]
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Als ich jünger war, machte ich mir Sorge darüber, was denn eigentlich ein Philosoph sei: denn ich glaubte an den berühmten Philosophen entgegengesetzte Merkmale wahrzunehmen. Endlich ging mir auf, daß es zwei unterschiedliche Arten von Philosophen giebt, einmal solche, welche irgend einen großen Thatbestand von Werthschätzungen, das heißt ehemaligen Werthsetzungen und Werthschöpfungen (logischen oder moralischen), festzuhalten haben, sodann aber solche, welche selber Gesetzgeber von Werthschätzungen sind. Die ersteren suchen sich der vorhandenen oder vergangenen Welt zu bemächtigen, indem sie dieselbe durch Zeichen zusammenfassen und abkürzen. Diesen Forschern liegt es ob, alles bisher Geschehene und Geschätzte übersichtlich, überdenkbar, faßbar, handlich zu machen, die Vergangenheit zu überwältigen, alles Lange, ja die Zeit selbst abzukürzen, eine große und wundervolle Aufgabe. Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber, sie sagen: so soll es sein! sie bestimmen erst das Wohin und Wozu des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit der philosophischen Arbeiter, jener Überwältiger der Vergangenheit. Diese zweite Art von Philosophen geräth selten; und in der That ist ihre Lage und Gefahr ungeheuer. Wie oft haben sie sich absichtlich die Augen zugebunden, um nur den schmalen Saum nicht mehr sehen zu müssen, der sie vom Abgrund und Absturz trennt: zum Beispiel Plato, als er sich überredete, das Gute, wie er es wollte, sei nicht das Gute Platos, sondern das Gute an sich, der ewige Schatz, den nur irgend ein Mensch Namens Plato auf seinem Weg gefunden habe! In viel gröberen Formen waltet dieser selbe Wille zur Blindheit bei den Religions-Stiftern: ihr “du sollst” darf durchaus ihren Ohren nicht klingen wie “ich will,”—nur als dem Befehle eines Gottes wagen sie ihrer Aufgabe nachzukommen, nur als “Eingebung” ist ihre Gesetzgebung der Werthe eine tragbare Bürde, unter der ihr Gewissen nicht zerbricht.— Sobald nun jene zwei Trostmittel, das Platos und das Muhameds, dahin gefallen sind und kein Denker mehr an der Hypothese eines “Gottes” oder “ewiger Werthe” sein Gewissen erleichtern kann, erhebt sich der Anspruch des Gesetzgebers neuer Werthe zu einer neuen und noch nicht erreichten Furchtbarkeit. Nunmehr werden jene Auserkornen, vor denen die Ahnung einer solchen Pflicht aufzudämmern beginnt, den Versuch machen, ob sie ihr wie als ihrer größten Gefahr nicht noch “zur rechten Zeit” durch irgend einen Seitensprung entschlüpfen möchten: zum Beispiel indem sie sich einreden, die Aufgabe sei schon gelöst, oder sie sei unlösbar, oder sie hätten keine Schultern für solche Lasten, oder sie seien schon mit andern näheren Aufgaben überladen, oder selbst diese neue ferne Pflicht sei eine Verführung und Versuchung, eine Abführung von allen Pflichten, eine Krankheit, eine Art Wahnsinn. Manchem mag es in der That gelingen auszuweichen: es geht durch die ganze Geschichte hindurch die Spur solcher Ausweichenden und ihres schlechten Gewissens. Zumeist aber kam solchen Menschen des Verhängnisses jene erlösende Stunde, jene Herbst-Stunde der Reife, wo sie mußten was sie nicht einmal “wollten”:— und die That, vor der sie sich am meisten vorher gefürchtet hatten, fiel ihnen leicht und ungewollt vom Baume, als eine That ohne Willkür, fast als Geschenk. —