Sommer 1872 - Anfang 1873 19 [1-150]
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Kant sagt (2. Vorrede zur Kritik): “ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik, das ist das Vorurtheil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstrebenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.” [Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. In: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert. Bd. 2. Leipzig: Voss, 1838:679. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. In: Sämmtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hrsg von Gustav Hartenstein. Bd. 3. Leipzig: Voss, 1867:25. Vgl. Eugen Karl Dühring, Kritische Geschichte der Philosophie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin: L. Heimann, 1873:397f.] Sehr wichtig! Eine Kulturnoth hat ihn getrieben!
Sonderbarer Gegensatz “Wissen und Glauben”! Was hätten die Griechen davon gedacht! Kant kannte keinen andern Gegensatz! Aber wir!
Eine Kulturnoth treibt Kant: er will ein Gebiet vor dem Wissen retten: dorthin legt die Wurzeln alles Höchsten und Tiefsten, Kunst und Ethik—Schopenhauer.
Andrerseits sammelt er alles Wissenswürdige für alle Zeit—die ethische Volks- und Menschenweisheit (Standpunkt der 7 Weisen, der griechischen popularphilosophen).
Er zersetzt die Elemente jenes Glaubens und zeigt, wie wenig gerade der christliche Glaube dem tiefsten Bedürfniß genügt: Frage nach dem Werthe des Daseins!
Der Kampf des Wissens mit dem Wissen!
Schopenhauer macht selbst auf das uns unbewußte Denken und Wissen aufmerksam.
Die Bändigung des Erkenntnißtriebes—ob zu Gunsten einer Religion? Oder einer künstlerischen Kultur, soll sich nun zeigen; ich stehe auf der zweiten Seite.
Ich setze hinzu die Frage nach dem Werthe des historischen ikonischen Erkennens, auch der Natur.
Bei den Griechen ist es die Bändigung zu Gunsten einer künstlerischen Kultur (und Religion?), die Bändigung, welche ein volles Entfesseltsein verhüten will: wir wollen den ganz entfesselten wieder zurückbändigen.