Sommer 1872 - Anfang 1873 19 [1-150]
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Die jetzt vernichteten Philosophien und Theologien wirken aber noch immer fort in den Wissenschaften: auch wenn die Wurzeln abgestorben sind, ist hier in den Zweigen noch eine Zeitlang Leben. Das Historische ist besonders als Gegenkraft gegen den theologischen Mythus, aber auch gegen die Philosophie, so breit entwickelt: das absolute Erkennen feiert hier und in den mathematischen Naturwissenschaften seine Saturnalien, das Geringste, was hier wirklich ausgemacht werden kann, gilt höher als alle metaphysischen Ideen. Der Grad der Sicherheit bestimmt hier den Werth, nicht der Grad der Unentbehrlichkeit für Menschen. Es ist der alte Kampf von Glauben und Wissen.
Es sind dies barbarische Einseitigkeiten.
Jetzt kann die Philosophie nur noch das Relative aller Erkenntniß betonen und das Anthropomorphische, so wie die überall herrschende Kraft der Illusion. Sie kann damit den entfesselten Erkenntnißtrieb nicht mehr hemmen: der immer mehr nach dem Grade der Sicherheit urtheilt und immer kleinere Objekte sucht. Während jeder Mensch zufrieden ist, wenn ein Tag vorbei ist, wühlt gräbt und combinirt später der Historiker nach diesem Tag, um ihn der Vergessenheit zu entreißen: das Kleine soll auch ewig sein, weil es erkennbar ist.
Für uns gilt nur der aesthetische Maaßstab: das Große hat ein Recht auf Historie, aber auf keine ikonische, sondern eine produktive erregende Geschichtsmalerei. Wir lassen die Gräber ruhn: aber bemächtigen uns des ewig Lebendigen.
Lieblingsthema der Zeit: die großen Wirkungen des Kleinsten. Das historische Wühlen hat z. B. als Ganzes etwas Großartiges: es ist wie die dürftige Vegetation, die allmählich die Alpen zerreibt. Wir sehen einen großen Trieb, der kleine Werkzeuge, aber großartig viele hat.
Man könnte dagegen stellen: die kleinen Wirkungen des Großen! wenn es nämlich durch Individuen vertreten wird. Es ist schwer zu fassen, oft stirbt die Tradition weg, der Haß dagegen ist allgemein, sein Werth beruht auf der Qualität, die hat immer wenig Schätzer.
Das Große wirkt nur auf das Große: wie die Fackelpost im Agamemnon nur von Höhe zu Höhe springt. Es ist die Aufgabe einer Kultur, daß das Große in einem Volke nicht als Einsiedler erscheint, noch als Verbannter.
Deshalb wollen wir reden, was wir empfinden: es ist nicht unsere Sache zu warten, bis der matte Abglanz dessen, was mir hell erscheint, auch bis in die Thäler dringt. Zuletzt nämlich sind die großen Wirkungen des Kleinsten eben die Nachwirkungen der Großen; sie haben eine Lawine in’s Rollen gebracht. Nun haben wir Mühe, sie aufzuhalten.