Sommer 1872 - Anfang 1873 19 [1-150]
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Jede Art von Kultur beginnt damit, daß eine Menge von Dingen verschleiert werden. Der Fortschritt des Menschen hängt an diesem Verschleiern—das Leben in einer reinen und edlen Sphäre und das Abschließen der gemeineren Reizungen. Der Kampf gegen die “Sinnlichkeit” durch die Tugend ist wesentlich ästhetischer Art. Wenn wir die großen Individuen als unsere Leitsterne gebrauchen, so verschleiern wir viel an ihnen, ja wir verhüllen alle die Umstände und Zufälle, die ihr Entstehen möglich machen, wir isoliren sie uns, um sie zu verehren. Jede Religion enthält so ein Element: die Menschen unter göttlicher Obhut, als etwas unendlich Wichtiges. Ja, alle Ethik beginnt damit, daß wir das einzelne Individuum unendlich wichtig nehmen—anders als die Natur, die grausam und spielend verfährt. Wenn wir besser und edler sind, so haben es die isolirenden Illusionen gemacht!
Dem stellt nun die Naturwissenschaft die absolute Naturwahrheit entgegen: die höhere Physiologie wird freilich die künstlerischen Kräfte schon in unserem Werden begreifen, ja nicht nur in dem des Menschen, sondern des Thieres: sie wird sagen, daß mit dem Organischen auch das Künstlerische beginnt.