Anfang 1874 bis Frühjahr 1874 32 [1-83]
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Wagner’s Kunst ist überfliegend und transscendental, was soll unsre arme deutsche Niedrigkeit damit anfangen! Sie hat etwas wie Flucht aus dieser Welt, sie negirt dieselbe, sie verklärt diese Welt nicht. Deshalb wirkt sie nicht direkt moralisch, indirekt quietistisch. Nur um seiner Kunst eine Stätte in dieser Welt zu bereiten, sehen wir ihn beschäftigt und activ: aber was geht uns ein Tannhäuser Lohengrin Tristan Siegfried an! Das scheint aber das Loos der Kunst zu sein, in einer solchen Gegenwart, sie nimmt der absterbenden Religion ein Theil ihrer Kraft ab. Daher das Bündniss Wagner’s und Schopenhauer’s. Es verräth, dass vielleicht bald einmal die Kultur nur noch in der Form klosterhaft abgeschiedener Sekten existirt: die sich zu der umgebenden Welt ablehnend verhalten. Der Schopenhauerische “Wille zum Leben” bekommt hier seinen Kunstausdruck: dieses dumpfe Treiben ohne Zweck, diese Ekstase, diese Verzweiflung, dieser Ton des Leidens und Begehrens, dieser Accent der Liebe und der Inbrunst. Selten ein heitrer Sonnenstrahl, aber viel magische Zaubereien der Beleuchtung.
In einer solchen Stellung der Kunst liegt ihre Stärke und Schwäche: es ist so schwer, von dort her zu dem einfachen Leben zurückzukehren. Die Verbesserung des Wirklichen ist nicht mehr das Ziel, sondern das Vernichten oder das Hinwegtäuschen des Wirklichen. Die Stärke liegt in dem sektirerischen Character: sie ist extrem und verlangt von dem Menschen eine unbedingte Entscheidung.— Ob wohl ein Mensch besser zu werden vermag, durch diese Kunst und durch Schopenhauerische Philosophie? Gewiss in Betreff der Wahrhaftigkeit. Wenn nur in einer Zeit, in der die Lüge und Convention so langweilig und uninteressant ist, die Wahrhaftigkeit nicht so interessant wäret So unterhaltend! Aesthetisch reizvoll!