Herbst 1881 15 [1-72]
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Dies ist mir bewußt geworden: in welcher seltsamen Vereinfachung der Dinge und Menschen leben wir! wie haben wir es uns leicht und bequem gemacht, und unsern Sinnen einen Freipaß für oberflächliche Beobachtung, unserm Denken für die tollsten muthwilligsten Sprünge und Fehlschlüsse gegeben! Das Bild, welches allmählich die Wissenschaft ausführt, ist nicht aus anderen Erkenntnißquellen geschöpft: dieselben Sinne, dasselbe Urtheilen und Schließen, aber gleichsam moralisch geworden, stoisch geduldig, tapfer, gerecht, unermüdlich, nicht zu beleidigen, nicht zu entzücken. Es sind gute Sinne, es ist gutes Denken, was in der Wissenschaft arbeitet. Und diese Wissenschaft deckt nun endlich auch dem guten Menschen seine Oberflächlichkeit und seine Fehlschlüsse auf, die Grundlagen seiner Werthschätzungen, auch seinen Aberglauben, daß der moralische Mensch die Menschheit so weit entwickelt habe: der unmoralische Mensch hat nicht weniger Antheil—und selbst in der Wissenschaft sind fortwährend in feinen Dosen Feindschaft Mißtrauen Rache Widerspruchssinn List Argwohn thätig und nöthig: in aller ihrer Tapferkeit, Gerechtigkeit und •J"k">\" ist dieses böse Element. Wenn die einzelnen Forscher nicht einseitig eingenommen für ihren Einfall wären, wenn sie nicht ihre Unterhaltung haben wollten, ihre Mißachtung fürchteten—wenn sie sich nicht gegenseitig durch Neid und Argwohn in Schranken hielten, so fehlte der Wissenschaft ihr gerechter und tapferer Charakter. Aber als Ganzes erzieht sie zu gewissen Werthschätzungen—die res publica der Gelehrten erzwingt eine gewisse moralische Handlungsweise, mindestens den Ausdruck derselben: sie sublimirt das Böse zu Tugenden!