Herbst 1881 15 [1-72]
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Ich glaube, man verkennt den Stoicismus. Das Wesentliche dieser Gemüthsart—das ist er, schon bevor die Philosophie ihn sich erobert hat—ist das Verhalten gegen den Schmerz und die Unlust-Vorstellungen: eine gewisse Schwere Druckkraft und Trägheit wird auf das äußerste gesteigert, um den Schmerz wenig zu empfinden: Starrheit und Kälte sind der Kunstgriff, Anaesthetika also. Hauptabsicht der stoischen Erziehung, die leichte Erregbarkeit zu vernichten, die Zahl der Gegenstände, die überhaupt bewegen dürfen, immer mehr einschränken, Glauben an die Verächtlichkeit und den geringen Werth der meisten Dinge, welche erregen, Haß und Feindschaft gegen die Erregung, die Passion selber als ob sie eine Krankheit oder etwas Unwürdiges sei: Augenmerk auf alle häßlichen und peinlichen Offenbarungen der Leidenschaft—in summa: Versteinerung als Gegenmittel gegen das Leiden, und alle hohen Namen des Göttlichen der Tugend fürderhin der Statue beilegen. Was ist es, eine Statue im Winter umarmen, wenn man gegen Kälte stumpf geworden ist?—was ist es, wenn die Statue die Statue umarmt! Erreicht der Stoiker die Beschaffenheit, welche er haben will—meistens bringt er sie mit und wählt deshalb diese Philosophie!—so hat er die Druckkraft einer Binde, welche Unempfindlichkeit hervorbringt.— Diese Denkweise ist mir sehr zuwider: sie unterschätzt den Werth des Schmerzes (er ist so nützlich und förderlich als die Lust), den Werth der Erregung und Leidenschaft, er ist endlich gezwungen, zu sagen: alles wie es kommt, ist mir recht, ich will nichts anders—er beseitigt keinen Nothstand mehr, weil er die Empfindung für Nothstände getödtet hat. Dies drückt er religiös aus, als volle Übereinstimmung mit allen Handlungen der Gottheit (z. B. bei Epictet).