Herbst 1881 15 [1-72]
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Feinere Sinne und einen feineren Geschmack haben, an das Ausgesuchte und Allerbeste wie an die rechte und natürliche Kost gewöhnt sein, eines starken und kühnen Körpers genießen, der zum Wächter und Erhalter und noch mehr zum Werkzeug eines noch stärkeren, kühneren, wagehalsigeren, gefahrsuchenderen Geistes bestimmt ist: wer möchte nicht, daß dies Alles gerade sein Besitz, sein Zustand wäre! Aber er verberge sich nicht: mit diesem Besitz und diesen Zustand ist man das leidensfähigste Geschöpf unter der Sonne, und nur um diesen Preis kauft man die Auszeichnung, auch das glücksfähigste Geschöpf unter der Sonne zu sein! Die Fülle der Arten des Leides fällt wie ein unendlicher Schneewirbel auf einen solchen Menschen, wie ebenfalls an ihm die stärksten Blitze des Schmerzes sich entladen. Allein unter dieser Bedingung, von allen Seiten und bis ins Tiefste hinein dem Schmerze immer offen zu stehen, kann er den feinsten und höchsten Arten des Glücks offen stehen: als das empfindlichste reizbarste gesundeste wechselndste und dauerhafteste Organ der Freude und aller gröberen und feineren Entzückungen in Geist und Sinnen: wenn nämlich die Götter ihn nur ein wenig in Schutz nehmen und nicht aus ihm (wie leider gewöhnlich!) einen Blitzableiter ihres Neides und Spottes auf die Menschheit machen. An solchen Menschen war Athen ein paar Jahrhunderte lang sehr reich, zu anderen Zeiten einmal Florenz, und noch neuerlicher Paris. Und, im Angesichte solcher letzten und höchsten Erzeugnisse der bisherigen Cultur, gilt immer noch der gute Glaube der Aufklärer, daß Glück, mehr Glück die Frucht der wachsenden Aufklärung und Cultur sein werde, und Niemand setzt hinzu: auch Unglück, mehr Unglück, mehr Leidensfähigkeit, vielartigeres und größeres Leid als je!— Warum doch brachen die philosophischen Schulen Athen’s im 4. Jahrhundert gerade inmitten der höchsten bisher erreichten Aufklärung und Cultur so mächtig hervor und warum suchten sie, Jede auf ihre Weise, den damaligen Athenern eine harte zum Theil fürchterliche oder mindestens überaus beschwerliche und kümmerliche Lebensweise und als Ziel Schmerzlosigkeit und eine Art von Starrheit aufzureden? Sie hatten die leidensfähigsten Menschen um sich und gehörten zu ihnen—sie verzichteten allesammt auf das Glück im Schooß dieser höchsten Cultur, weil dieses “Glück” nicht ohne die Bremse Schmerz und deren ewige Anstachelung zu haben war! Daß, gut gerechnet, ein der Erkenntniß und dem nil admirari geweihtes Leben selbst unter den härtesten Entbehrungen und Unbequemlichkeiten erträglicher sei als das Leben der Glücklichen Reichen Gesunden Gebildeten Genießenden Bewundernden Bewunderten einer solchen “höchsten Cultur,”—mit dieser Paradoxie führte sich die Philosophie in Athen ein und fand im Ganzen doch sehr viel Gläubige und Nachsprecher! und gewiß nicht nur unter den Freunden des Paradoxen!— Man kann die Seltsamkeit dieser Thatsache nicht lange genug ansehen. — — — —