Herbst 1881 15 [1-72]
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“Und was wird nach dem Ende der Moral?” Oh ihr Neugierigen! Wozu schon jetzt so fragen! Aber laufen wir einmal schnell darüber hin—schnell!—sonst würden wir fallen—denn hier ist alles Eis und Glätte.
Alle und jede Handlungsweise, welche die Moral fordert, wurde von ihr auf Grund mangelhafter Kenntniß des Menschen und vieler tiefer und schwerer Vorurtheile gefordert: hat man diesen Mangel und diese Erdichtung nachgewiesen, so hat man die moralische Verbindlichkeit für diese und jene Handlungen vernichtet—es ist kein Zweifel!—und zwar schon deshalb, weil die Moral selber vor allem Wahrheit und Redlichkeit fordert und somit sich selber die Schnur um den Hals gelegt hat, mit welcher sie erwürgt werden kann—werden muß: der Selbstmord der Moral ist ihre eigene letzte moralische Forderung!— Immerhin könnte damit die Forderung, daß dies zu thun und jenes zu lassen ist, noch nicht vernichtet sein, nur der moralische Antrieb würde fürderhin fehlen—und nur für den Fall, daß es eben keinen weiteren Antrieb für eine Handlungsweise geben sollte, als diesen, wäre die Forderung selber mit der Moral erdrosselt. Nun melden sich aber die Utilitarier und zeigen auf den Nutzen hin, als Anlaß zur gleichen Forderung—auf den Nutzen als den nöthigen Umweg zum Glücke; die Aesthetiker sodann welche im Namen des Schönen und Hohen oder des guten Geschmacks (was dasselbe ist) die Forderung wiederholen; es erscheinen die Freunde der Erkenntniß und zeigen, daß so und so zu leben die beste Vorbereitung zum Erkennen sei und daß es nicht nur von schlechtem Geschmacke zeugen würde, sondern von Widerspänstigkeit gegen die Weisheit, wenn man anders, im Widerspruch zu jenen ehemaligen Forderungen der Moral, leben wollte.— Und zuletzt strömen die Idealisten aller Grade herbei und zeigen auf das Gebilde hin, das vor ihnen herschwebt: “ach, dies Gebilde zu erreichen, zu umarmen, es wie ein Siegel auf uns eindrücken und fürderhin dies Bild sein—was würden wir nicht alles thun und lassen um dessentwillen! Was ist uns Nutzen und Geschmack und Weisheit, was sind uns Gründe und Grundlosigkeit gegen diese Begier nach unserem ideal, nach diesem meinem Ideale!”—und so stellen sie jene Forderung wieder her, jeder für sich—als Mittel seiner Begier, als Labsal seines Durstes.