Herbst 1881 15 [1-72]
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Zuletzt thun wir nicht mehr mit der Erkenntniß als die Spinne mit Netze-weben und Jagd und Aussaugen thut: sie will leben vermöge dieser Künste und Thätigkeiten und ihre Befriedigung haben—und eben dies wollen auch wir, wenn wir Erkennenden Sonnen und Atome erhaschen festhalten und gleichsam feststellen—wir sind da auf einem Umwege zu uns hin, zu unseren Bedürfnissen, welche auf die Dauer bei jeder fehlerhaften unmenschlichen und rein willkürlichen Perspektive ungesättigt bleiben und uns Noth machen. Die Wissenschaft hat ein feines Gehör für den Nothschrei der Bedürfnisse, und oft ein prophetisches Gehör. Um die Dinge so zu sehen, daß wir dabei unsere Bedürfnisse befriedigen können, müssen wir unsere menschliche Optik bis in ihre letzten Folgen treiben. Du Mensch selber, mit deinen fünf bis sechs Fuß Länge—du selber gehörst in diese Optik hinein, du bist auf die Schwäche deiner Sinnesorgane hin von dir construirt—und wehe, wenn es anders wäre, wenn unsere Organe noch schwächer wären, und das Auge nicht einmal die Hand erreichte oder sie in einer so unbestimmten Ferne schweben sähe, daß eine Gesammtconstruktion des Menschen für den Menschen selber unmöglich wäre— Unsere Erkenntniß ist keine Erkenntniß an sich und überhaupt nicht sowohl ein Erkennen als ein Weiterschließen und Ausspinnen: es ist die großartige seit Jahrtausenden wachsende Folgerung aus lauter nothwendigen optischen Irrthümern—nothwendig, falls wir überhaupt leben wollen—Irrthümern, falls alle Gesetze der Perspektive Irrthümer an sich sein müssen. Unsere Gesetze und Gesetzmäßigkeiten sind es, die wir in die Welt hineinlegen—so sehr der Augenschein das Umgekehrte lehrt und uns selber als die Folge jener Welt, jene Gesetze als die Gesetze derselben in ihrer Wirkung auf uns zu zeigen scheint. Unser Auge wächst—und wir meinen, die Welt sei im Wachsen. Unser Auge, welches ein unbewußter Dichter und ein Logiker zugleich ist! Welches jetzt einen Spiegel darstellt, auf dem sich die Dinge nicht als Flächen, sondern als Körper zeigen—als seiend und beharrend, als uns fremd und unzugehörig, als Macht neben unserer Macht! Dieses Spiegel-Bild des Auges malt die Wissenschaft zu Ende!—und damit beschreibt sie ebenso die bisher geübte Macht des Menschen als sie dieselbe weiter übt—unsere dichterisch-logische Macht, die Perspektiven zu allen Dingen festzustellen, vermöge deren wir uns lebend erhalten.