Herbst 1883 16 [1-90]
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In wie fern ist Verletzung Unrecht?— Es entsteht bei der Verletzung das Bedürfniß nach Vergeltung: was ist das? Nicht zu verwechseln, das Gefühl, einen Feind erkannt zu haben, dem wir das weitere Schädigen unmöglich machen. Oder die Absicht, das uns Genommene zurückzuerhalten oder ein Äquivalent. Eine Erbitterung ist noch dabei. An sich wird der Feind nicht als schlecht empfunden: aber fast immer ist bei dem Verletzten ein Selbst-Vorwurf: wir waren zu sorglos, unsere Waffen waren nicht in Ordnung, wir hätten uns längst für gewarnt halten können usw. Dieser Verdruß über uns selber—also eine geringere Achtung vor uns—ist der Hauptgrund der Erbitterung in der Rache: und auch der Anlaß zur Feinheit in der Ausführung der Rache.
Daß Alles bezahlt wird und für jedes Ding ein Aquivalent existirt, hat die Phantasie dazu geführt, auch ein Aquivalent von Schaden zu erdenken: und von Vergeltung zu reden. Aber im Grunde ist es auf etwas Andres abgesehn, auf viel mehr als eine Abzahlung. Vergeltung ist nur eine Heuchelei und Schönfärberei des sich Rächenden. “Schuld.”
Das Gefühl der Rachelust hört auf, wenn der Verletzer sich demüthigt, den Schaden gut macht: damit ist er besiegt.
Das Absichtliche im Schädigen ist ursprünglich nicht in’s Auge gefaßt: sondern daß man beschädigt ist und um wie viel. Die Strafe folgt darauf. Das Schädigen wird vergolten—ist die älteste Form, nicht die feindselige Gesinnung. Die Empörung entsteht über die Schädigung also über den Erfolg des Feindes, nicht über die Feindseligkeit. Es ist das Gefühl des Besiegten—das Verlangen nach Vergeltung: nicht das Gefühl, daß Unrecht geschehn sei.
Rache, das Verlangen nach Vergeltung ist nicht das Gefühl, daß Unrecht geschehn sei, sondern daß ich besiegt bin—und daß ich mit allen Mitteln jetzt meine Geltung wieder herstellen muß.
Unrecht entsteht erst, wo ein Vertrag gebrochen ist, wo also Friede und Treue verletzt wird. Dies ist die Empörung über eine unwürdige Handlung, unwürdig der vorausgesetzten Gleichheit der Empfindungen. Also etwas Gemeines, Verächtliches muß daran sein, das auf eine niedrigere Stufe weist. Die Gegen-Absicht kann nur die sein, das unwürdige Wesen auf diese tiefere Stufe zu setzen: also ihn von uns zu trennen, auszustoßen, zu erniedrigen, Schmach anzuthun. Sinn der Strafe.
Der Sinn der Strafe ist nicht abzuschrecken, sondern in der gesellschaftlichen Ordnung Jemanden niedriger zu setzen: er gehört nicht mehr zu den uns Gleichen.
Jede Maßregel, die dies bewirkt, ist ausreichend. “Ächtung.” In dieser Richtung muß sich das Strafwesen entwickeln!