Winter 1883-84 24 [1-37]
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Über die Herkunft unsrer
Werthschätzungen.
Wir können uns unsern Leib räumlich auseinanderlegen, und dann erhalten wir ganz dieselbe Vorstellung davon wie vom Sternensysteme, und der Unterschied von organisch und unorganisch fällt nicht mehr in die Augen
Hymnus auf die Werth-Schätzung.
Ehemals erklärte man die Sternbewegungen als Wirkungen zweckbewußter Wesen: man braucht dies nicht mehr, und auch in Betreff des leiblichen Bewegens und sich-Veränderns glaubt man lange nicht mehr mit dem zweckesetzenden Bewußtsein auszukommen. Die allergrößte Menge der Bewegungen hat gar nichts mit Bewußtsein zu thun: auch nicht mit Empfindung. Die Empfindungen und Gedanken sind etwas äußerst Geringes und Seltenes im Verhältniß zu dem zahllosen Geschehn in jedem Augenblick. Umgekehrt nehmen wir wahr, daß eine Zweckmäßigkeit im Kleinsten Geschehn herrscht, der unser bestes Wissen nicht gewachsen ist, eine Vorsorglichkeit, eine Auswahl, ein Zusammenbringen, Wieder-Gut-Machen usw. Kurz, wir finden eine Thätigkeit vor, die einem ungeheuer viel höheren und überschauenden Intellekte zuzuschreiben wäre als der uns bewußte ist. Wir lernen von allem Bewußten geringer denken: wir verlernen uns für unser Selbst verantwortlich zu machen, da wir als bewußte, zwecksetzende Wesen nur der kleinste Theil davon sind. Von den zahlreichen Einwirkungen in jedem Augenblick z. B. Luft Elektrizität empfinden wir fast nichts: es könnte genug Kräfte geben, welche, obschon sie uns nie zur Empfindung kommen, uns fortwährend beeinflussen. Lust und Schmerz sind ganz seltene und spärliche Erscheinungen gegenüber den zahllosen Reizen, die eine Zelle, ein Organ auf eine andere Zelle, ein anderes Organ ausübt.
Es ist die Phase der Bescheidenheit des Bewußtseins. Zuletzt verstehen wir das Bewußte ich selber nur als ein Werkzeug im Dienste jenes höheren überschauenden Intellekts: und da können wir fragen, ob nicht alles bewußte Wollen, alle bewußten Zwecke, alle Werthschätzungen vielleicht nur Mittel sind, mit denen etwas wesentlich Verschiedenes erreicht werden soll, als innerhalb des Bewußtseins es scheint. Wir meinen: es handele sich um unsre Lust und Unlust - - - aber Lust und Unlust könnten Mittel sein, vermöge deren wir etwas zu leisten hätten, was außerhalb unseres Bewußtseins liegt - - - Es ist zu zeigen, wie sehr alles Bewußte auf der Oberfläche bleibt: wie Handlung und Bild der Handlung verschieden ist, wie wenig man von dem weiß, was einer Handlung vorhergeht: wie phantastisch unsere Gefühle “Freiheit des Willens” “Ursache und Wirkung” sind: wie Gedanken nur Bilder, wie Worte nur Zeichen von Gedanken sind: die Unergründlichkeit jeder Handlung: die Oberflächlichkeit alles Lobens und Tadelns: wie wesentlich Erfindung und Einbildung ist, worin wir bewußt leben, wie wir in allen unseren Worten von Erfindungen reden (Affekte auch), und wie die Verbindung der M[ensch]heit auf einem Überleiten und Fortdichten dieser Erfindungen beruht: während im Grunde die wirkliche Verbindung (durch Zeugung) ihren unbekannten Weg geht. Verändert wirklich dieser Glaube an die gemeinsamen Erfindungen die Menschen? Oder ist das ganze Ideen- und Werthschätzungswesen nur ein Ausdruck selber von unerkannten Veränderungen? Giebt es denn Willen, Zwecke, Gedanken, Werthe wirklich? Ist vielleicht das ganze bewußte Leben nur ein Spiegelbild? Und auch wenn die Werthschätzung einen Menschen zu bestimmen scheint, geschieht im Grunde etwas ganz Anderes? Kurz: gesetzt, es gelänge, das Zweckmäßige im Wirken der, Natur zu erklären ohne die Annahme eines zweckesetzenden Ich’s: könnte zuletzt vielleicht auch unser Zweckesetzen unser Wollen usw. nur eine Zeichensprache sein für etwas Wesentlich-Anderes—nämlich Nicht-Wollendes und Unbewußtes? Nur der feinste Anschein jener natürlichen Zweckmäßigkeit des Organischen, aber nichts Verschiedenes davon?
Und kurz gesagt: es handelt sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes um den Leib: es ist die fühlbar werdende Geschichte davon, daß ein höherer Leib sich bildet. Das Organische steigt noch auf höhere Stufen. Unsere Gier nach Erkenntniß der Natur ist ein Mittel, wodurch der Leib sich vervollkommnen will. Oder vielmehr: es werden hunderttausende von Experimenten gemacht, die Ernährung, Wohnart, Lebensweise des Leibes zu verändern: das Bewußtsein und die Werthschätzungen in ihm, alle Arten von Lust und Unlust sind Anzeichen dieser Veränderungen und Experimente. Zuletzt handelt es sich gar nicht um den Menschen: er soll überwunden werden.