Juni-Juli 1885 36 [1-60]
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Welchen Werth Wagner für den Nicht-Musiker haben mag, auch fürderhin behalten mag, die Frage soll uns für jetzt noch erspart bleiben. Richard Wagner hat ohne allen Zweifel den Deutschen dieses Zeitalters die umfänglichste Ahnung davon gegeben, was ein Künstler sein könnte:—die Ehrfurcht vor dem “dem Künstler” ist plötzlich ins Große gewachsen: überall hat er neue Werthschätzungen, neue Begierden, neue Hoffnungen erweckt; und vielleicht nicht am wenigsten gerade durch das nur ankündigende, unvollständige, unvollkommene Wesen seiner Kunstgebilde. Wer hat nicht von ihm gelernt! Und wenn auch nicht so unmittelbar, wie die Künstler des Vortrags und die Attitüden-Menschen jeder Art, so doch mindestens mittelbar, “bei Gelegenheit von Richard Wagner,” wie man sagen dürfte. Sogar die philosophische Erkenntniß hat keinen geringen Anstoß durch sein Erscheinen bekommen, daran ist nicht zu zweifeln. Es giebt heute eine Menge aesthetischer Probleme, von welchen, vor Richard Wagner, auch die Feinsten noch keinen Geruch hatten,—vor allem das Problem des Schauspielers und sein Verh[ältnis] zu den verschiedenen Künsten, nicht zu reden von psychologischen Problemen, wie sie der Charakter Wagners und die W[agnersche] Kunst in Fülle vorlegt. Freilich: so weit er sich selber in das Reich der Erkenntniß begeben hat, verdient er kein Lob, vielmehr eine unbedingte Zurückweisung; in den Gärten der Wissenschaft nahm er sich immer nur als der unbescheidenste und ungeschickteste Eindringling aus. Das “Philosophiren” Wagner’s gehört zu den unerlaubtesten Arten der Dilettanterei; daß man darüber nicht einmal zu lachen verstanden hat, ist deutsch und gehört zum alten deutschen “Cultus der Unklarheit.” Will man ihm aber durchaus auch noch als einem “Denker” zu Ehren und Statuen verhelfen—der gute Wille und die Unterthänigkeit seiner Anhänger wird das sich nicht ersparen können—wohlan! so empfehle ich, ihn als den Genius der deutschen Unklarheit selber darzustellen, mit einer qualmenden Fackel in der Hand, begeistert und eben über einen Stein stolpernd. Wenn Wagner “denkt,” stolpert er.— Aber uns wird der M[usiker] Wagner angehen.