Juni-Juli 1885 36 [1-60]
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Über den deutschen Pessimismus.—
Die Verdüsterung, die pessimistische Färbung, kommt nothwendig im Gefolge der Aufklärung. Gegen 1770 bemerkte man bereits die Abnahme der Heiterkeit; Frauen dachten, mit jenem weiblichen Instinkt, der immer zu Gunsten der Tugend Partei nimmt, daß die Immoralität daran Schuld sei. Galiani traf ins Schwarze: er citirt Voltaires Vers.— [Vgl. Ferdinando Galiani, Lettres de l'Abbé Galiani à Madam d'Épinay, Voltaire, Diderot, Grimm, le Baron d'Holbach, Morellet, Suart, D'Alembert, Marmontel, la Vicomtesse de Belsunce, etc. Publiées d'après les Éditions originales augmentées des variantes, de nombreuses notes et d'un index avec notice biographique par Eugène Asse. Édition couronnée par l'Académie française. Vol. 1. Paris: G. Charpentier, 1882:101. Vgl. 4. November 1887, Brief an Heinrich Köselitz: "Voltaire ist eine prachtvolle geistreiche canaille; aber ich bin der Meinung Galiani's: 'un monstre gai vaut mieux / qu'un sentimental ennuyeux.' Voltaire ist nur auf dem Boden einer vornehmen Cultur möglich und erträglich, die sich eben den Luxus der geistigen canaillerie gestatten kann ..."] Wenn ich nun vermeine, jetzt um ein paar Jahrhunderte Voltaire und sogar Galiani—der etwas viel Tieferes war—in der Aufklärung voraus zu sein: wie weit mußte ich also gar in der Verdüsterung gelangt sein! Dies ist auch wahr: und ich nahm zeitig mit einer Art Bedauern Acht vor der deutschen und christlichen Enge und Folge-Unrichtigkeit des Schopenhauerschen oder gar Leopardischen Pessimismus und suchte die principiellsten Formen auf (—Asien—) Unter die Fortdenker des Pessimismus rechne ich nicht E[duard] v[on] H[artmann], vielmehr unter die “angenehmen Litteraturen” - - - usw. Um aber diesen extremen Pessimismus zu ertragen (wie er hier und da aus meiner “Geburt der Tragödie” heraus klingt) “ohne Gott und Moral” allein zu leben, mußte ich mir ein Gegenstück erfinden. Vielleicht weiß ich am besten, warum der Mensch allein lacht: er allein leidet so tief, daß er das Lachen erfinden mußte. Das unglückliche und melancholische Thier ist, wie billig, das heiterste.