Juni-Juli 1885 36 [1-60]
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Hätte die Welt ein Ziel, so müßte es erreicht sein. Gäbe es für sie einen unbeabsichtigten Endzustand, so müßte er ebenfalls erreicht sein. Wäre sie überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens, eines “Seins” fähig, hätte sie nur Einen Augenblick in allem ihrem Werden diese Fähigkeit des “Seins,” so wäre es wiederum mit allem Werden längst zu Ende, also auch mit allem Denken, mit allem “Geiste.” Die Thatsache des “Geistes” als eines Werdens beweist, daß die Welt kein Ziel, keinen Endzustand hat und des Seins unfähig ist.— Die alte Gewohnheit aber, bei allem Geschehen an Ziele und bei der Welt an einen lenkenden schöpferischen Gott zu denken, ist so mächtig, daß der Denker Mühe hat, sich selber die Ziellosigkeit der Welt nicht wieder als Absicht zu denken. Auf diesen Einfall—daß also die Welt absichtlich einem Ziele ausweiche und sogar das Hineingerathen in einen Kreislauf künstlich zu verhüten wisse—müssen alle die verfallen, welche der Welt das Vermögen zur ewigen Neuheit aufdekretiren möchten, das heißt einer endlichen, bestimmten, unveränderlich gleich großen Kraft, wie es “die Welt” ist—die Wunder-Fähigkeit zur unendlichen Neugestaltung, ihrer Formen und Lagen. Die Welt, wenn auch kein Gott mehr, soll doch der göttlichen Schöpferkraft, der unendlichen Verwandlungs-Kraft fähig sein; sie soll es sich willkürlich verwehren, in eine ihrer alten Formen zurückzugerathen, sie soll nicht nur die Absicht, sondern auch die Mittel haben, sich selber vor jeder Wiederholung zu bewahren, sie soll somit in jedem Augenblick jede ihrer Bewegungen auf die Vermeidung von Zielen, Endzuständen, Wiederholungen hin controliren—und was Alles die Folgen einer solchen unverzeihlich-verrückten Denk- und Wunschweise sein mögen. Das ist immer noch die alte religiöse Denk- und Wunschweise, eine Art Sehnsucht zu glauben, daß irgendworin doch die Welt dem alten geliebten, unendlichen, unbegrenzt-schöpferischen Gotte gleich sei—daß irgendworin doch “der alte Gott noch lebe,”—jene Sehnsucht Spinoza’s, die sich in dem Worte “deus sive natura” (er empfand sogar “natura sive deus”—) ausdrückt. Welches ist denn aber der Satz und Glaube, mit welchem sich die entscheidende Wendung, das jetzt erreichte Übergewicht des wissenschaftlichen Geistes über den religiösen götter-erdichtenden Geist, am bestimmtesten formulirt? Heißt er nicht: die Welt, als Kraft, darf nicht unbegrenzt gedacht werden, denn sie kann nicht so gedacht werden—wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft als mit dem Begriff “Kraft” unverträglich. Also—fehlt der Welt auch das Vermögen zur ewigen Neuheit.