Juni-Juli 1885 36 [1-60]
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Aber zu wem rede ich dies? Wo sind denn diese “freien Geister”? Giebt es denn ein solches “unter uns”? —
Ich sehe um mich: wer denkt, wer fühlt darin, wie ich? Wer will, was mein verborgenster Wille will? Aber ich fand Niemanden bisher. Vielleicht habe ich nur schlecht gesucht? Vielleicht müssen die, welche an meiner Art neuer Noth und neuem Glück leiden, sich gleichermaßen verbergen, wie ich es thue? Und Masken vornehmen, wie ich es that?— Und folglich schlecht zum Suchen von Ihresgleichen taugen?
Wir neuen Philosophen, wir Versuchenden, denken anders—und wir wollen es nicht beim Denken bewenden lassen. Wir denken freier—vielleicht kommt der Tag, wo man mit Augen sieht, daß wir auch freier handeln. Einstweilen sind wir schwer zu erkennen; man muß uns verwechseln. Sind wir “Freidenker”?
In allen Ländern Europas und ebenso in Nordamerika giebt es jetzt “Freidenker”: gehören sie zu uns? Nein, meine Herren, ihr wollt ungefähr das Gegentheil von dem, was in den Absichten jener Philosophen liegt, welche ich Versucher nenne; diese spüren wenig Versuchung, mit euch lügnerische Artigkeiten auszutauschen. Ja, wenn ihr “Freidenker” nur einen Geruch davon hättet, wovon man sich frei machen kann und wohin man dann getrieben wird! ich meine, ihr würdet zu den wüthendsten Gegnern dessen gehören, was ich meine “Freiheit des Geistes[”] und mein “Jenseits von Gut und Böse” nenne.
Daß ich es nicht mehr nöthig habe, an “Seelen” zu glauben, daß ich die “Persönlichkeit” und ihre angebliche Einheit leugne und in jedem Menschen das Zeug zu sehr verschiedenen “Personae” (und Masken) finde, daß mir der “absolute Geist” und das “reine Erkennen” Fabelwesen bedeuten, hinter denen sich schlecht eine contradictio in adjecto verbirgt—damit bin ich vielleicht auf der gleichen Bahn, wie viele jener “Freidenker,” noch ganz abgesehen von der Leugnung Gottes, mit der auch heute noch einige biedere Engländer vermeinen, eine ungeheure Probe von Freisinnigkeit zu geben. Was mich von ihnen trennt, sind die Werthschätzungen: denn sie gehören allesammt in die demokratische Bewegung und wollen gleiche Rechte für Alle, sie sehen in den Formen der bisherigen alten Gesellschaft die Ursachen für die menschlichen Mängel und Entartungen, sie begeistern sich für das Zerbrechen dieser Formen: und einstweilen dünkt ihnen das Menschlichste, was sie thun können, allen Menschen zu ihrem Grad geistiger “Freiheit” zu verhelfen. Kurz und schlimm, sie gehören zu den “Nivellirern,”—zu jener Art Menschen, die mir in jedem Betracht gröblich wider den Geschmack und noch mehr wider die Vernunft geht: Ich will, auch in Dingen des Geistes, Krieg und Gegensätze; und mehr Krieg als je, mehr G[egensätze] als je; ich würde den härtesten Despotismus (als Schule für die Geschmeidigkeit des Geistes) noch eher gutheißen als die feuchte laue Luft eines “preßfreien” Zeitalters, in dem aller Geist bequem und dumm wird und die Glieder streckt. Ich bin darin auch heute noch, was ich war—“unzeitgemäß.”
Wir neuen Philosophen aber: wir beginnen nicht nur mit der Darstellung der thatsächlichen Rangordnung und Werth-Verschiedenheit der Menschen, sondern wir wollen auch gerade das Gegentheil einer Anähnlichung, einer Ausgleichung: wir lehren die Entfremdung in jedem Sinne, wir reißen Klüfte auf, wie es noch keine gegeben hat, wir wollen, daß der Mensch böser werde als er je war. Einstweilen leben wir noch selber einander fremd und verborgen. Es wird uns aus vielen Gründen nöthig sein, Einsiedler zu sein und selbst Masken vorzunehmen,—wir werden folglich schlecht zum Suchen von unsresgleichen taugen. Wir werden allein leben und wahrscheinlich die Martern aller sieben Einsamkeiten kennen. Laufen wir uns aber über den Weg, durch einen Zufall, so ist darauf zu wetten, daß wir uns verkennen oder wechselseitig betrügen.