Juni-Juli 1885 37 [1-18]
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Ich unterscheide, unter den höheren Menschen sowohl wie unter Völkern, solche, welche die Welt rund, ganz und fest haben wollen,—groß vielleicht, sehr groß aber ganz und gar nicht “unendlich”—und solche, welche die Wolken lieben: weil Wolken verhüllen, weil Wolken “ahnen” lassen. Zu letzteren gehören, unter den Völkern, die Deutschen; und deshalb ist es für einen Denker entgegengesetzten Sinnes nicht rathsam, sich unter ihnen seine Hütte zu bauen. Die Luft ist ihm da zu wolkig. Die deutsche “Einfalt,” den deutschen Glauben an den “reinen Thoren”: er übersetzt sich das immer ins Französische und nennt es la niaiserie allemande. Das deutsche “Gemüth”: er versteht darunter wörtlich, was Goethe darunter verstand: “Nachsicht mit fremden und eignen Schwächen.” Der deutsche Ungeschmack: er findet ihn haarsträubend,;—ich zeigte schon einmal bei Gelegenheit eines alterschwachen Buches von Strauß mit den Fingern darauf hin. Vom Auslande aus gesehen, darf man zweifeln ob Deutschland jetzt zehn Männer aufzuweisen hat, welche in Fragen der litterarischen Form urtheilsfähig sind und Tiefe haben. Tiefe nämlich ist nöthig um die zarten Bedürfnisse nach Form überhaupt zu begreifen; erst von der Tiefe aus, vom Abgrunde aus genießt man alles Glück, das im Hellen, Sicheren, Bunten, Oberflächlichen aller Art liegt. Aber die Deutschen glauben sich tief, wenn sie sich schwer und trübsinnig fühlen:—sie schwitzen, wenn sie denken, das Schwitzen gilt ihnen als Beweis ihres “Ernstes.” Ihre Geister sind plump, der Geist des Bieres ist mächtig auch noch in ihren Gedanken—und sie heißen es gar noch ihren “Idealismus”! Freilich, die Deutschen haben, wie sie wenigstens selber vermeinen, es gerade mit diesem Idealismus weit, “bis an die Sterne weit” getrieben, und sie dürften sich, wenn es sonst die deutsche Bescheidenheit erlaubte, darauf hin ungescheut neben die Griechen niedersetzen, als das berühmte Volk der “Dichter und Denker.” Oder, um dieses Selbstvertrauen auch einmal unbescheiden reden zu lassen, und zwar mit dem Verse eines großen Idealisten:
| “Was lobt man viel die Griechen! “Sie müssen sich verkriechen, “Wenn sich die teutsche Muse regt. “Horaz in Flemming lebet, “In Opitz Naso schwebet, “In Greiff Senecen's Traurigkeit.” |
| Leibnitz. |