Juni-Juli 1885 37 [1-18]
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Moral und Physiologie.— Wir halten es für eine Voreiligkeit, daß gerade das menschliche Bewußtsein so lange als die höchste Stufe der organischen Entwickelung und als das Erstaunlichste aller irdischen Dinge, ja gleichsam als deren Blüthe und “Ziel” angesehen wurde. Das Erstaunlichere ist vielmehr der Leib: man kann es nicht zu Ende bewundern, wie der menschliche Leib möglich geworden ist: wie eine solche ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen, jedes abhängig und unterthänig und doch in gewissem Sinne wiederum befehlend und aus eignem Willen handelnd, als Ganzes leben, wachsen und eine Zeit lang bestehen kann—: und dieß geschieht ersichtlich nicht durch das Bewußtsein! Zu diesem “Wunder der Wunder” ist das Bewußtsein eben nur ein “Werkzeug” und nicht mehr—im gleichen Verstande, in dem der Magen ein Werkzeug dazu ist. Die prachtvolle Zusammenbindung des vielfachsten Lebens, die Anordnung und Einordnung der höheren und niederen Thätigkeiten, der tausendfältige Gehorsam welcher kein blinder, noch weniger ein mechanischer sondern ein wählender, kluger, rücksichtsvoller, selbst widerstrebender Gehorsam ist—dieses ganze Phänomen “Leib” ist nach intellectuellem Maaße gemessen unserem Bewußtsein, unserem “Geist,” unserem bewußten Denken, Fühlen, Wollen so überlegen, wie Algebra dem Einmaleins. Der “Nerven- und Gehirnapparat” ist nicht, um überhaupt Denken, Fühlen, Wollen hervorzubringen, so fein und “göttlich” construirt: vielmehr dünkt mich daß gerade dazu, zum Denken, Fühlen, Wollen, an sich noch gar kein “Apparat” nöthig ist, sondern daß dies, eben dies—“die Sache selbst” ist. Vielmehr wird eine solche ungeheure Synthesis von lebendigen Wesen und Intellekten, welche “Mensch” heißt, erst leben können, wenn jenes feine Verbindungs- und Vermittlungs-System und dadurch eine blitzartig schnelle Verständigung aller dieser höheren und niederen Wesen geschaffen ist—und zwar durch lauter lebendige Vermittler: dies aber ist ein moralisches, und nicht ein mechanistisches Problem! Von der “Einheit,” von der “Seele,” von der “Person” zu fabeln, haben wir uns heute untersagt: mit solchen Hypothesen erschwert man sich das Problem, so viel ist klar. Und auch jene kleinsten lebendigen Wesen, welche unseren Leib constituiren (richtiger: von deren Zusammenwirken das, was wir “Leib” nennen, das beste Gleichniß ist—), gelten uns nicht als Seelen-Atome, vielmehr als etwas Wachsendes, Kämpfendes, Sich-Vermehrendes und Wieder-Absterbendes: so daß ihre Zahl unbeständig wechselt, und unser Leben wie jegliches Leben zugleich ein fortwährendes Sterben ist. Es giebt also im Menschen so viele “Bewußtseins” als es Wesen giebt, in jedem Augenblicke seines Daseins, die seinen Leib constituiren. Das Auszeichnende an dem gewöhnlich als einzig gedachten “Bewußtsein,” am Intellecte, ist gerade, daß er vor dem unzählig Vielfachen in den Erlebnissen dieser vielen Bewußtseins geschützt und abgeschlossen bleibt und, als ein Bewußtsein höheren Ranges, als eine regierende Vielheit und Aristokratie, nur eine Auswahl von Erlebnissen vorgelegt bekommt, dazu noch lauter vereinfachte, übersichtlich und faßlich gemachte, also gefälschte Erlebnisse,—damit er seinerseits in diesem Vereinfachen und Übersichtlichmachen, also Fälschen fortfahre und das vorbereite, was man gemeinhin “einen Willen” nennt,—jeder solche Willensakt setzt gleichsam die Ernennung eines Diktators voraus. Das aber, was unserem Intellecte diese Auswahl vorlegt, was schon die Erlebnisse vorher vereinfacht, angeähnlicht, ausgelegt hat, ist jedenfalls nicht eben dieser Intellect: ebensowenig, wie er das ist, was den Willen ausführt, was eine blasse, dünne und äußerst ungenaue Werth- und Kraft-Vorstellung aufnimmt und in lebendige Kraft und genaue Werthe-Maaße übersetzt. Und gerade dieselbe Art von Operation, welche hier sich abspielt, muß sich auf allen tieferen Stufen, im Verhalten aller dieser höheren und niederen Wesen zueinander, fortwährend abspielen: dieses selbe Auswählen und Vorlegen von Erlebnissen, dieses Abstrahiren und Zusammendenken, dieses Wollen, diese Zurückübersetzung des immer sehr unbestimmten Wollens in bestimmte Thätigkeit. Am Leitfaden des Leibes wie gesagt, lernen wir daß unser Leben durch ein Zusammenspiel vieler sehr ungleichwerthigen Intelligenzen und also nur durch ein beständiges tausendfältiges Gehorchen und Befehlen—moralisch geredet: durch die unausgesetzte Übung vieler Tugenden—möglich ist. Und wie dürfte man aufhören, moralisch zu reden!— — Dergestalt schwätzend gab ich mich zügellos meinem Lehrtriebe hin, denn ich war glückselig, Jemanden zu haben, der es aushielt, mir zuzuhören. Doch gerade an dieser Stelle hielt Ariadne es nicht mehr aus — die Geschichte begab sich nämlich bei meinem ersten Aufenthalte auf Naxos—: “aber mein Herr, sprach sie, Sie reden Schweinedeutsch!”— “Deutsch, antwortete ich wohlgemuth, einfach deutsch! Lassen Sie das Schwein weg, meine Göttin! Sie unterschätzen die Schwierigkeit, feine Dinge deutsch zu sagen!”— “Feine Dinge! schrie Ariadne entsetzt auf: aber das war nur Positivismus! Rüssel-Philosophie! Begriffs-Mischmasch und -Mist aus hundert Philosophien! Wo will das noch hinaus!”—und dabei spielte sie ungeduldig mit dem berühmten Faden, der einstmals ihren Theseus durch das Labyrinth leitete.— Also kam es zu Tage, daß Ariadne in ihrer philosophischen Ausbildung um zwei Jahrtausende zurück war.